Johanna Sebauer (34) mit Vater in der dritten Halbzeit. Sebauer lebt in Hamburg, gleich hinterm Millerntor. Und schaut genau dort auch dem wirklichen Fußball zu.

Foto: Wei

Was den Fußball betrifft, bin ich eine Außenstehende. Was zunächst nicht viel mehr bedeutet, als dass ich die Fußballfans mit einer ebensolch kindlich-forschenden Faszination betrachte wie den Fußball selbst. Beobachtet man kindlich-forschend den österreichischen Fußball und seine Fans, reißt es einen mitunter zu einem allgemeinen, möglicherweise vorschnellen, möglicherweise bösartigen Urteil hin: Die Nationalmannschaft, die Herren-Nationalmannschaft, ist für ihre Fans manchmal mehr demütig mitzuschleppende Bürde denn Quell der Ekstase.

Die Fans wirken zuweilen gar so, als warteten sie – wie damals in der Schule bei dem runzeligen Physiklehrer, der einem nichts mehr beibrachte, weil er nach vierzig Jahren vor der Tafel nur noch schwer kaschieren konnte, dass ihn das Schulische nicht mehr tangierte – auf den Tag der Pensionierung. Auf dass etwas Besseres nachkommen möge. Mit mehr Motivation und Herz. Solange aber schleppt sich der österreichische Fußballfan bei Länderspielen vors Kastl. Aus Pflichtbewusstsein, weil er ja muss, weil ja doch etwas passieren könnte, das er nicht verpassen möchte, und im Zweier eh Universum läuft. Auch der Papa ist so einer, der Fußball schaut, weil er muss – als österreichischer Fußballfan oder zumindest "Interessierter". Weil er, behauptet er, selbst einmal ein begnadeter Außenpracker gewesen sei. Und weil, nun ja, weil die Zeitung, für die er schreibt, ihn eben für die Sportseiten einspannt.

Österreich spielt gegen Wales. Der Papa sitzt vor dem Fernseher und ich, was immer seltener der Fall ist, daneben. In den Jahren, in denen ich den Papa nun schon kenne, konnte ich des Papas Fußballschauen in drei Phasen einteilen.

Phase eins: Die Na-geh-Phase

Des Papas Fußballschauen beginnt als ruhige Angelegenheit. Viel kommt nicht aus seinem Mund während des Spiels. Manchmal hebt er den Arm. Ganz langsam, viel zu langsam für einen Fußballschauenden, streckt ihn von sich, zeigt mit dem Finger auf den Bildschirm. "Wor a Göbe!", sagt er, mehr zu sich selbst als zu mir oder sonst irgendwem.

Wenn der Papa Fußball schaut, dann schaut er in erster Linie. Ungeübte Augen würden meinen, in dieser Ruhe den scharfen Blick des Sportjournalisten, der er ja immerhin noch ist, zu erkennen. Genau weiß ich es nicht, aber ich glaube, das ist falsch. Fragt man ihn nach dem Spiel zu Taktiken der einen oder der anderen Mannschaft oder den Gründen des Sieges oder der Niederlage der einen oder der anderen Mannschaft, kommt nicht viel Erkenntnisbringendes hervor. "Tore hätten s’ halt mehr schießen müssen", analysiert dann der Sportjournalist. "Rennen hätten s’ halt mehr müssen." – "Der Ball muss halt am End’ ins Tor. Es hilft nix." Der Papa analysiert also wenig, er schaut in erster Linie Fußball. So soll es, denke ich mir als Außenstehende dann manchmal, vielleicht auch sein.

Die Stille dieser ersten Phase von Papas Fußballschauen wird mit verstreichender Zeit häufiger unterbrochen. Gelegentlich hört man ihn nun doch etwas sagen. Na geh! Ein kurzer Ausruf nur, in dem mehr steckt als die bloße Enttäuschung. Wer im Fußball Na geh sagt, der meint etwas anderes.

"Na geh! So knapp war das!"

"Na geh! Fast wär der drin gewesen!"

"Na geh! Noch so einer, aber mit ein bisschen mehr Geschwindigkeit, ein bisschen mehr Hirn und ein bisschen mehr Witz – und wir könnten, stell dir vor, wir könnten tatsächlich ein Tor machen. Vielleicht! Wer weiß, vielleicht!" So viele Wunder sind schon passiert im Fußball. Man denke an die Isländer bei der vorletzten EM, man denke an Leicester City und Christian Fuchs und den Meistertitel in der Premiere League, an den niemand geglaubt hat, man denke an die Dänen 1992, an die Griechen 2004. Und natürlich: man denke an Deutschland – Brasilien 2014. 7:1! Herr in Brasiliens Himmel, gegen die Piefke auch noch, ausgerechnet, wie soll man das je verdauen als Brasilianer, sete a um, zwischen Rio und Salvador längst Metapher für Totalversagen, erzählt man mir. Aber egal, das wird schon, das wird schon. Fußball ist ein Land der Möglichkeiten, auch für uns, vielleicht auch für uns, hier und heute. "Na geh!" Fußball ist, was wir draus machen. "Na geh!" Alles, alles hat es schon gegeben im Fußball, in diesem fantastischstem aller Theater der Fantastereien, in dem alles offen ist, bis zum Schluss. "Na geh. Na geh. Na geh!"

Phase zwei: Die Na-jo-Phase

Mit fortschreitender Spielzeit häufen sich die Na-geh-Momente. Beim österreichischen Fußballfan schrumpft die Hoffnung. Beim Papa wird der Übergang von der Na-geh-Phase zur Phase zwei eingeleitet, der Na-jo-Phase. Für Menschen, die den Papa noch nicht lange kennen, ist der Übergang zwischen diesen Phasen nur schwer zu erkennen. Denn es ändert sich nicht viel. Der Papa sitzt nach wie vor wortkarg vor dem Bildschirm und regt sich kaum. Allein das sporadische, nach den auf der falschen Stangenseite vorbeigezwiebelten Bällen in den Raum geworfene Na geh wird allmählich zum Na jo.

Na jo heißt hier aber nicht etwa "Na jo, war ja gar nicht so schlecht", sondern: "Na jo, wen wundert’s." – "Na jo, wenn man nicht laufen will, dann wird der Gegner schneller sein."

"Na jo, mit einer derartig geringen Spielfreude wird einem halt auch nichts geschenkt werden."

Ganz klar, man merkt es schon, hier findet eine Distanzierung statt. Äußerlich zumindest wirkt es so, innerlich hängt der Zuschauer in dieser Phase freilich noch immer mit seinen ganzen Emotionen in der Sache fest, versucht sich aber einzureden, dass ihn das alles gar nicht betreffe. Mit dem klassischen SSKM-Prinzip (Selbst schuld, kein Mitleid) wird hier vorgegangen. Wer Wind sät, wird Sturm ernten, stand schon im Alten Testament. Wer scheiße spielt, der Tore. "So is des, so wor des immer, so wird’s a immer sein." Na jo!

Phase drei: Die Wast-wos-Phase

In der dritten Phase nimmt die Äußerungsfrequenz des Papas schließlich deutlich zu. Manchmal steht er sogar auf und geht in ein anderes Zimmer, um dort weiß Gott was zu machen. Von Na Geh und Na jo ist lange keine Rede mehr. Willkommen in der Wast-wos-Phase.

"Wast wos?" oder "Geh, wast wos?". Als Österreicher, auch als einer, der keinen Fußball schaut, weiß man, was auf diese Frage folgt.

"Wast wos? Ihr kennts mi gern hom."

"Wast wos? Hau di über d’ Heisa."

"Wast wos? Geh in Oasch bis zum Zwölffingerdarm, du Gsöchta! Bevor i mi söba vagiss. Soll i da die Hedi-Tant aufn Plotz schickn, mitn Plastik in da Hüftn links und rechts, damit s’ da zagt, wia ma flankt? Du Zniachtl, tramhapperts. So wos Depperts, so wos Fetzndepperts. Soichene Kabln druckts ma do außa, Liftwart kunnt i wern."

Diese wienerisch inspirierte, poetische Liste ist endlos. Es ist, das haben alle diese Sätze gemein, Ausdruck totaler Resignation. Alles ist verloren. Man wirft das Handtuch fürs Team. Und alles andere, was man hat, auch. Vertraute Emotionen für den österreichischen Fußballfan.

"Wast wos?", sagt also der Papa gegen Ende des Spiels zwischen Österreich und Wales dann zum Torschützen Sabitzer, der im gegnerischen Strafraum den Ball siedend heiß vor die Füße serviert bekommt und dann – das Spiel war eine Barrage, Österreichs allerletzte Chance, sich für Katar zu qualifizieren – "Wast wos?", sagt also der Papa, der Fußballfan, der österreichische. "Was wos?"

Und geht ins Bett. (Johanna Sebauer, 12.12.2022)