Das Drehbuch ist längst geschrieben: Maradona hat Argentinien seine göttliche Kraft übertragen

Es ist 36 Jahre her, dass Argentinien mit einem Finalsieg gegen Deutschland zum zweiten und letzten Mal Weltmeister wurde. Diego Maradona hatte sich damit jedweder irdischen Gerichtsbarkeit entzogen. Inzwischen ist Maradona tot, der Traum vom Weltmeistertitel ist aber für die Albiceleste dank Lionel Messi lebendiger denn je. Und wer sieht sie bitte nicht, die mythische Verbindung zwischen diesen beiden Lichtgestalten? Seit Messi bei der WM in Katar über den Rasen wandelt, werden die Heiligenbilder wieder mehr, in denen Messi und Maradona gemeinsam gen Himmel fahren oder der verstorbene Allmächtige seinem Nachfolger per Fingerzeig wie in einem biblischen Gemälde seine Kraft überträgt.

Für die irdische Konkurrenz mag das kitschig klingen, aber bei den Argentiniern ist der Glaube zurückgekehrt. Hat seinerzeit auch schon einmal die Hand Gottes zum Sieg gegen einen ehemaligen Kriegsgegner herhalten dürfen, so reichten diesmal im Viertelfinale eiserne Nerven gegen ständig provozierende Niederländer. Dabei braucht man gar keine übernatürlichen Phänomene zu bemühen, um den Erfolg der Argentinier zu erklären. Messi trägt die Mannschaft, er hat die meisten Schüsse aller WM-Spieler abgegeben (22, gemeinsam mit Frankreichs Mbappé) und die meisten vorbereitet (16). Aber das Team trägt auch Messi. Argentinien lässt die mit Abstand wenigsten Torschüsse zu, im Schnitt vier pro Spiel. Nun ja, offensiv starke Gegner hatte Argentinien bis dato nicht. Das wird sich mit destruktiv, defensiv kickenden Kroaten im Halbfinale aber nicht ändern.

Wenn sich der Fußball in seinem Milliarden-Monopoly noch ein wenig Magie bewahrt hat, dann kann es nur einen Weltmeister geben. Die Fußballgötter waren bereits einmal gegen Argentinien, als ein klares Elferfoul von Deutschlands Keeper Manuel Neuer an Gonzalo Higuaín im WM-Finale 2014 nicht geahndet wurde. Noch einmal wird es eine derartige Farce nicht geben. Messi wird im letzten Anlauf der Vollendete werden. (Florian Vetter)

Foto: APA/AFP/KIRILL KUDRYAVTSEV

Ka Ruah in der Hitt’n! Kroatien muss nur Kroatien bleiben, dann ist der Weg frei

Gut, man könnte auch nach dem Ausscheidungsverfahren vorgehen. Kroatien wird es, weil es Argentinien, Frankreich und Marokko bekanntlich nicht werden. Am argentinischen Ausscheiden wird Kroatien nicht ganz unbeteiligt sein, auch Frankreich, das im Turnierverlauf, wenn wir uns ehrlich sind, immer mehr nachgelassen hat, wird bald auf der Strecke bleiben. Und Marokko im Finale wird eine harte Nuss, doch Kroatien wird sie knacken.

Ka Ruah in der Hitt’n, der Spruch kommt vom Schnapsen, wenn Karo quasi Trumpf ist. Im Fußball ist es das regelmäßig, die Kroaten mischen immer schon mit. Der legendäre Rapidler Zlatko Kranjcar war ihr erster Teamkapitän und Aljoša Asanovic ihr erster Torschütze, als er am 17. Oktober 1990 beim 2:1 gegen eine US-Auswahl in Zagreb das 1:0 erzielte. Zehn Jahre später stand Asanovic bei der Wiener Austria unter Vertrag, bestritt aber wegen einer Verletzung kein einziges Spiel.

Nicht einmal vier Millionen Einwohner hat das Land, doch im Fußball ist es seit jeher eine Macht. 1996 EM-Viertelfinalist, bestritt Kroatien 1998 seine erste WM – und wurde Dritter. Klar gab es Durststrecken, jene nach dem EM-Viertelfinale 2008 endete 2018, als die Kroaten bei der WM in Russland sensationell das Endspiel erreichten. Siegen über Dänemark, Russland (jeweils im Elferschießen) und England (in der Verlängerung) folgte ein finales 2:4 gegen Frankreich.

Auch diesmal hat Kroatien das Achtel- wie das Viertelfinale im Penaltyschießen überstanden. Zufall ist das keiner. Es zeugt von Abgebrühtheit der Schützen und vom Selbstvertrauen des Torhüters Dominik Livakovic, der bald mit einem Transfer viel Geld in die Kassen von Dinamo Zagreb spülen wird.

Die meisten seiner Vorderleute sind längst g’standene, mit allen Wassern gewaschene Legionäre, und Luka Modric steht mit 37 in der Blüte seines Schaffens. Sie müssen nicht zaubern, sie müssen es einfach nur runterspielen. Kroatien ist reif, reif, reif, reif für den Titel, Kroatien ist reif, reif, reif, überreif. (Fritz Neumann)

Foto: REUTERS/Lee Smith

Liberté, Égalité, Kylian Mbappé: Die Titelverteidigung ist für Frankreich Formsache

Gehen Sie meinen Kollegen nicht auf den Leim. Die saugen sich ihre Argumente für Kroatien, Argentinien und Marokko auch nur aus den Klebeln, weil sie die kürzeren Streichhölzer gezogen haben. Tief drinnen wissen sie, wissen wir alle, Frankreich wird Weltmeister 2022. Liberté, Égalité, Kylian Mbappé. Stellen Sie Ihren lauwarmen Prosecco zur Seite und den Champagner kalt.

Die schwierigste Aufgabe haben die Franzosen hinter sich, sie haben den leidigen Weltmeisterfluch bezwungen. Bei den vergangenen drei Endrunden waren die Titelverteidiger Italien, Spanien und Deutschland jeweils in der Gruppenphase gescheitert. Champions lassen sich gehen, sagt der Küchenpsychologe. Die Franzosen scheren aus, zeigen keine Anzeichen von Sättigung. Ganz im Gegenteil, ein Olivier Giroud, der 2018 noch torlos blieb, lässt im Alter von 36 Jahren vergessen, dass Weltfußballer Karim Benzema kurz vor dem Turnier verletzt abreisen musste.

Trainer Didier Deschamps ist tatsächlich zu beneiden. Nicht nur, dass er es wie Mario Zagallo und Franz Beckenbauer als Spieler und Trainer zu Weltmeisterehren brachte, der 54-Jährige hat auch einen Patzenkader zur Verfügung. Wer Flügelflitzer Kingsley Coman von der Bank bringen kann, darf mit breiter Brust in ein Halbfinale gegen Marokko gehen. Das Spielermaterial spielt alle Stückln. Offensivgala, Konterfußball oder Brechstange – Les Bleus zeigen, was immer gewünscht oder benötigt wird. Nur eines ist im Spiel der Franzosen sicher: Wenn Mbappé zum Sprint ansetzt, sehen die Gegner ein Paar Schuhsohlen.

Natürlich kann auch alles schiefgehen, und die Franzosen checken ohne Goldpokal ein. Das Leben steckt voller Überraschungen. Wer weiß, vielleicht schwingt der Emir von Katar im Endspiel eine Regenbogenfahne und gibt Fifa-Präsident Gianni Infantino zum Abschied einen Kuss auf den Mund. Ein Feuerwerk auf den Champs Élysées ist am Sonntag allerdings um einiges wahrscheinlicher. (Philip Bauer)

Foto: APA/AFP/ANTONIN THUILLIER

Denkt an die Griechen! Marokko zwingt das Glück wie die Halbgötter von Rehhakles

"Das war’s dann, sie sind geschickt, haben viel Herz, aber auch viel Glück gehabt. In der nächsten Runde ist aber wirklich Schluss." Im Frühsommer 2004, während der Europameisterschaft in Portugal, war das oft zu hören – bis zum 4. Juli. Da schlug Griechenland Gastgeber Portugal im Finale zu Lissabon mit 1:0. Der 19-jährige Cristiano Ronaldo weinte bitterlich, und die Fußballexperten waren sich einig. Diese Griechen unter ihrem Trainer Otto Rehhagel hatten einen derartigen Lauf, das musste einfach mit dem Titel enden. Ja, gut, sie haben nicht schön gespielt, haben gemauert, aber der Zweck heiligt die Mittel, hieß es. Die Spieler waren jedenfalls auf dem Olymp, genossen gottgleiche Verehrung – Goalie Antonios Nikopolidis, Abwehrchef Traianos Dellas, Kapitän Theodoros Zagorakis, Torjäger Angelos Charisteas. Der Trainer firmierte unter Rehakles, bis er nach der WM 2010 von den Griechen schied.

Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich, aber nationale Idole, das sind die Spieler der marokkanischen Mannschaft in Katar jetzt schon – von der Nummer eins bis zur Nummer 26 des Kaders. Trainer Walid Regragui sowieso. Diesen Status kann ihnen niemand mehr nehmen. Das Unmögliche wurde mit den Siegen über Belgien, Spanien und Portugal schon möglich gemacht.

Das Momentum ist aufseiten der "Löwen vom Atlas". Sie müssen sich nicht nach dem Gegner richten, der Gegner muss ein Rezept gegen sie finden. Das ist selbst für Weltmeister Frankreich eine Herkulesaufgabe. Es ist auch deshalb so schwer, weil in der Mannschaft Marokkos Spieler von Klasse stehen, die eben nicht nur mauern und auf ihr Glück vertrauen müssen. Dass die Defensive Turnier gewinnt, ist ein alter Hut. In dieser Hinsicht entwickelt Marokko aber eine völlig neue, eines Weltmeisters würdige Qualität. Die Nordafrikaner kassierten inklusive Elferschießen gegen Spanien nur einen Gegentreffer – ein Eigentor gegen Kanada. (Sigi Lützow)

Hinweis: In einer ersten Version hat der Text zu Kroatien gefehlt. Wir bedauern.

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