Ein Coach und sein Gott. Lionel Scaloni herzt Lionel Messi nach dem Einzug ins WM-Finale. Beide sind in ihrem Heimatland Argentinien ziemlich beliebt.

Foto: APA/AFP/JUAN MABROMATA

Man kann nicht alles haben. Und wenn man ganz fair ist, kann man die Regie der Fifa in diesem Fall aus der Verantwortung nehmen. Ja, es wäre ein geradezu unlauterer Wunsch gewesen, zwischen der 69. und der 70. Minute in den Kopf von Lionel Scaloni zu schwenken und die Gedanken des 44-Jährigen preiszugeben.

Zu den Fakten, die die Regie der Fifa brav einfing: 68. Minute im Lusail-Stadion, Halbfinale der WM zwischen Argentinien und Kroatien. Die Aktion hat ihren Ausgang in einem unschuldigen Einwurf hinter der Mittellinie. Nahuel Molina schmeißt den Ball zu Stürmer Julian Alvarez. Es steht 2:0 für Argentinien. Alvarez lässt den Ball mit der Hüfte prallen, kurz nach der Mittellinie, im Niemandsland des Fußballplatzes. Das Leder kommt zu Lionel Messi.

Messis Gegenspieler heißt in dieser 68. Minute Josko Gvardiol. Für ihn gilt wie für alle direkten Kontrahenten des kleinen Argentiniers: Es besteht die akute Gefahr, zum Esel zu werden. Der Ball pickt an Messis Füßen, Gvardiol hat keinen Zugriff, er versucht sich in den Zweikampf zu rangeln. Es gelingt ihm nicht, er scheitert immer und immer wieder. Messi zieht auf den ersten Metern das Tempo an, die Angel mit der Karotte, also dem Ball, schwirrt weiter vor Gvardiols Gesicht. Der 20-Jährige verhungert vor dem vollen Teller. Wie ein Kind, dem man vor dem ersten Schlecker immer wieder das Eis aus der Hand reißt.

Der Aufstieg der "Scaloneta"

Wenige Augenblicke später legt Messi im Strafraum auf Alvarez zurück, der schiebt zum 3:0 ein. Die Entscheidung. Die Regie bleibt, no na, auf dem Offensichtlichen, dem Unmittelbaren des Augenblicks. Jubel, Umarmungen, man kennt das. Vielleicht hat Coach Scaloni schon bei Molinas Einwurf in der 68. Minute geahnt, dass die Albiceleste wenige Momente später tiefer ins Grab gestoßen werden sollte. Denn von der "Weißen und Himmelblauen" sprechen in Argentinien nicht mehr viele: "La Scaloneta" sagt man jetzt zwischen den Anden und dem Atlantik.

Die stolze Fußballnation wurde just von einem No-Name ins Finale gehievt. Nur die wenigsten trauten Scaloni zu, den Glanz der Vergangenheit aufleben zu lassen. Und das in einem Land, in dem der Fußball so viel mehr bedeutet. Ein Land, das den Sport mit seinen Persönlichkeiten geprägt hat wie wenig andere. Ein Land, in dem Anspruch und die Erwartungen fast immer schon Wirklichkeit und Möglichkeiten ausgedribbelt haben wie Messi und Maradona ihre Gegenspieler

Jogginganzug statt Größenwahn

Als Scaloni 2018 übernahm, hatte er kein einziges Spiel einer Profimannschaft gecoacht. Der Mann aus Pujato war Co-Trainer unter Jorge Sampaoli, betreute zudem die argentinische U-20-Auswahl. Scaloni, ein begeisterter Rennradfahrer, ein harter Verteidiger, der in Spanien, England und Italien kickte, schaffte es, den Größenwahn auf die Ersatzbank zu schieben, und lehrte das Land vor allem eines: Geduld.

Gut, 36 ungeschlagene Spiele und der Titel bei der Copa América haben sicherlich geholfen. Scaloni ist kein Exzentriker, kein schillernder Selbstdarsteller, sein liebstes Outfit ist der Trainingsanzug, seine Wortmeldungen sind bescheiden, aber bestimmt. Er ist Diplomat und Leader zugleich. In Argentinien ist man entweder Anhänger der Philosophie César Luis Menottis (offensiv) oder spielt nach Carlos Salvador Bilardo (defensiv). Wie hält es Scaloni? "Ich verehre beide."

Nach dem Einzug ins WM-Finale überließ er jenem Spieler das Rampenlicht, der es gewöhnt ist: "Ich fühle mich geehrt, Messi trainieren und spielen sehen zu dürfen." Der Sohn eines "chacarero" (Landbauern) hat zwar keine Einheit aus dem Boden gestampft, er hat sie aber zusammengeschweißt. Man hat bei den Argentiniern das Gefühl, da spielen ein paar eingeschworene Buben aus einem Vorort von Buenos Aires. In einem Interview vor dem Turnier sagte der mit 44 Jahren jüngste Trainer der WM: "Ich bin sicher, dass man mehr gibt, wenn man mit dem Spieler befreundet ist, der neben einem steht." (Andreas Hagenauer, 14.12.2022)