Die Entkolonialisierung sollte einer postimperialen Welt den Weg bereiten. Doch die imperiale Hierarchie ließ das Vorhaben einer egalitären Weltgestaltung scheitern. Die Politikwissenschafterin Adom Getachew rekonstruiert in ihrem mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Buch Die Welt nach den Imperien. Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung die damaligen Ideen und Vorhaben. Ihr Bestreben ist es, damit einen Beitrag zu einer Geschichte der Gegenwart zu leisten.

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Ausbeutung von Menschen und Rohstoffen, während die Gewinne in den "Westen" fließen. Das Bild zeigt den neunjährigen Jean-Baptiste, der Kakao erntet. Die Arbeit beginnt um acht, Schule besucht er keine. Das Bild entstand in Côte d'Ivoire, die zu den größten Kakao-Exporteuren der Welt gehört.
Foto: Daniel Rosenthal / laif / picturedesk.com

STANDARD: Frau Getachew, Sie richten in Ihrem Buch den Blick zurück auf die Entkolonialisierungsbewegung, um Argumente für eine erneute Debatte über die internationale Ordnung zu sammeln. Findet gegenwärtig überhaupt eine solche Debatte statt?

Getachew: Was wir verfolgen konnten, war eine Debatte über die Krise der sogenannten liberalen internationalen Ordnung. Sie fand während der letzten fünf bis zehn Jahre in der Europäischen Union statt, aber auch in den USA, wo nach dem Rückzug aus den internationalen Kooperationen während der Präsidentschaft von Donald Trump über die internationalen Organisationen wie etwa die Vereinten Nationen diskutiert wurde. Die vorherrschende Stimme fiel allerdings den Konservativen zu. Die antikoloniale Kritik an den imperialen Hinterlassenschaften dieser nach 1945 geschaffenen Weltordnung fand keinen Eingang in die Debatte. So ging es nicht um eine Erneuerung und Umgestaltung der internationalen Ordnung, sondern nur um deren Bewahrung. Auch von einer Reformierung der ungleichen Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden war keine Rede. Gerade sie aber bilden den Kern der neokolonialen Abhängigkeit.

STANDARD: Sie betrachten die Vorhaben der Entkolonialisierungsbewegung als Modell zur Neugestaltung der gesamten Welt ...

Getachew: Die globale Politik hat ihre Wurzeln im Globalen Süden. Von da aus wurde die Vorstellung einer Weltordnung entwickelt, die auf dem Prinzip der Nichtbeherrschung beruht und zeigt, wie Gleichheit auf der internationalen Ebene aussehen müsste. Selbstbestimmung und Gleichheit werden häufig als westliche Ideen aufgefasst. Es sind aber afrikanische Ideen. Das können wir erkennen, wenn wir in die Geschichte schauen, wie afrikanische Staatsmänner der ersten Stunde diese Ideen entwickelten. Ein solches umfassendes Vorhaben gibt es gegenwärtig nicht. Es lassen sich aber einzelne Gesprächsfäden erkennen, die von diesen einstigen Vorstellungen einer anderen Weltordnung herrühren und die ein Samenkorn bilden könnten für eine erneute Debatte. Denken Sie etwa an das karibische Bündnis, das von den europäischen Regierungen Reparationen für die Folgen der Sklaverei und Kolonialherrschaft fordert. Solche Bewegungen der Reparationsforderungen verdeutlichen, dass die Weltordnung, wie sie nach 1945 geschaffen wurde, auf der Ausbeutung und Beherrschung des Globalen Südens beruht. Reparationen wären ein Weg, das zu ändern.

STANDARD: Sehen Sie Anzeichen einer Bereitschaft des Nordens, etwas zu ändern?

Getachew: Unglücklicherweise muss meine Antwort Nein lauten. Es war eine große Überraschung für mich, als 2021 bei der UN-Klimakonferenz in Glasgow darüber verhandelt wurde, den Globalen Süden finanziell zu unterstützen, weil er die größten Lasten der Klimaveränderungen trage. So kommt es vielleicht doch zu einer Veränderung. Ich hoffe, die Neue Weltwirtschaftsordnung wird wieder zum Leben erweckt. Wir brauchen internationale Organisationen, die die Abhängigkeit des Globalen Südens überwinden und einer Erneuerung der wirtschaftlichen Beziehungen den Weg bereiten. Es finden interessante Debatten über Reparationen, Souveränität und internationale Finanzen statt. Sie alle gipfeln in der Forderung, dass die internationale Wirtschaftsordnung sich öffnet. Damit dies möglich wird, bedarf es innerhalb der Länder des Globalen Nordens einer sozialen und politischen Bewegung, wie die Arbeiterbewegung sie war, um die gegenwärtige Weltordnung zu hinterfragen und Solidarität mit dem Globalen Süden zu fordern.

STANDARD: Sie bezeichnen die Entdeckung des Weiß-Seins als ein modernes Denken des 19. und 20. Jahrhunderts ...

Getachew: Das ist ein Zitat aus einem Essay des Historikers und Philosophen W. E. B. Du Bois, der 1909 erschien und 1921, zum Buch erweitert, unter dem Titel Darkwater. Voices from Within the Veil herauskam. Du Bois’ These stützt sich auf die Beobachtung, dass mit der Abschaffung der Sklaverei im 19. Jahrhundert neue Formen der Zwangsarbeit geschaffen wurden und es zu einem Ausschluss der Schwarzen von der politischen Teilhabe kam. Die negative Einstellung gegenüber den Schwarzen, die zunehmend um sich griff, markiert einen wichtigen Moment für die neue Bestimmung rassischer Unterschiede. Ein weiterer Aspekt war, dass Länder wie Südafrika, Australien und Kanada den Status der Selbstregierung erlangten und sich selbst als weiße Länder identifizierten. So entstand zunehmend ein rassifiziertes Selbstverständnis als weiß. Man identifizierte sich mit dem Weiß-Sein. Du Bois veranlasste dies, die sogenannte Color Line, also die Trennung nach der Hautfarbe, als ein internationales Problem des 20. Jahrhunderts zu beschreiben.

Adom Getachew ist eine äthiopisch-amerikanische Politikwissenschafterin und Neubauer Family Assistant Professor of Political Science an der University of Chicago.
Foto: Joe Sterbenc

STANDARD: Stimmen Sie auch der These des trinidadischen Politikers Eric Williams zu, dass die Sklaverei nicht aus dem Rassismus geboren wurde, sondern der Rassismus die Folge der Sklaverei war?

Getachew: Ja, der Prozess, durch den die Sklaverei mit dem Schwarz-Sein und mit Afrika verbunden wurde, vollzog sich in jener Periode des Kolonialismus. Diese Verbindung bestand nicht von Anfang an. Man führte rassische Unterschiede an, um die Versklavung der Schwarzen und die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft zu rechtfertigen. Und diese rassifizierten Strukturen der Ausbeutung und Beherrschung bewirkten diese Auffassung der Minderwertigkeit von Schwarzen. Williams kommt zudem das Verdienst zu, die eminente Bedeutung aufgezeigt zu haben, die der transatlantische Sklavenhandel für die Entstehung der modernen Welt hatte.

STANDARD: Können Sie bei Ihrer Rekapitulation des einstigen Scheiterns den Punkt benennen, an dem für die entkolonialisierten Staaten der Weg in die falsche Richtung abzweigte?

Getachew: Ich zögere, einen Punkt zu benennen. Man könnte viele Stellen aufzeigen, an denen der Versuch, eine egalitäre postimperiale Weltordnung zu schaffen, schiefging. So verstehen wir etwa Selbstbestimmung als ein Recht auf Unabhängigkeit und Gleichheit innerhalb der Weltordnung und als demokratische Selbstregierung innerhalb eines Landes. Die damaligen Akteure waren jedoch mehr damit befasst, Unabhängigkeit und Gleichheit auf der Weltbühne durchzusetzen. Ihre Vernachlässigung der inneren Selbstbestimmung stellt heute die große Herausforderung dar. Zugleich bleiben die Fragen der postimperialen Weltordnung bestehen. Die politischen Akteure sollten sich daher intensiv mit der Beziehung zwischen innerer und äußerer Selbstbestimmung auseinandersetzen.

Adom Getachew,
"Die Welt nach den Imperien. Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung".
Aus dem Amerikanischen von Frank Lachmann. € 35,– / 448 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2022

STANDARD: Erscheint Ihr Buch auch in Afrika?

Getachew: Diese Frage berührt genau die Ungleichheit, die ich in meinem Buch anprangere. Auch die Wissensproduktion in der Welt ist ungleich verteilt. Ich habe digitale Veranstaltungen mit Universitäten auf dem afrikanischen Kontinent durchgeführt, und mein Buch zirkuliert an einigen Universitäten. Aber es liegt noch keine afrikanische Ausgabe oder Übersetzung in eine afrikanische Sprache vor.

STANDARD: Nun haben sich die Kräfte in der Welt zwischen dem Ende des Kolonialismus und heute entscheidend verschoben. China ist zu einer starken Wirtschaftsmacht aufgestiegen. Welche Rolle spielt China in der Debatte um eine postkoloniale Weltordnung?

Getachew: Das ist die große Frage. Der Aufstieg Chinas bedeutet die Wiederbelebung eines alten Modells des Kalten Krieges, was für den Globalen Süden allerdings unergiebig ist. Der Konflikt, der in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion bestand, bot den Entwicklungsländern einige Möglichkeiten, mit beiden Mächten zu verhandeln und zusammenzuarbeiten. Das ist jetzt nicht der Fall. Der gegenwärtige Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China bedeutet nämlich, dass man sich international auf den Konflikt konzentriert, statt den Globalen Süden in den Vordergrund zu rücken. So bleibt abzuwarten, was diese Version des Kalten Krieges dem Süden politisch und wirtschaftlich beschert. China ist in vielen Ländern des Globalen Südens aktiv. Welches Wunderwerk will es vollbringen? Selbst stellt es sich als Alternative dar, weil es keine politischen Bedingungen an seine Kredite knüpft. Aber wird das auch in Zukunft so bleiben? (Ruth Renée Reif, 4.1.2023)