Viele Unternehmen haben Probleme, geeignete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden. Das liegt auch am veränderten Stellenwert von Arbeit in der Gesellschaft.
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Auf den ersten Blick betrachtet, scheint die Situation am Arbeitsmarkt gar nicht ungünstig: Die Arbeitslosenquote für 2022 lag bei 6,3 Prozent und damit so niedrig wie seit 2008 nicht mehr, heißt es seitens des Arbeitsministeriums. Zudem sind die Konjunkturdaten durchaus rosig – das Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) schätzt das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes für 2022 auf 4,8 Prozent. Zugleich suchen Unternehmen seit Jahren ungebrochen nach Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Man könnte meinen, dass beide Seiten – jene der Arbeitgebenden wie auch jene der Arbeitnehmenden – durchaus Grund zur Zufriedenheit haben. Dass dem allerdings nicht so ist, liegt für Franz-Josef Lackinger, BFI-Geschäftsführer und Aufsichtsratsvorsitzender der FH BFI Wien, darin begründet, dass zwischen Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt etwas steht, das er "Soft Factors" nennt – ein Bündel an nicht präzise quantifizierbaren Einflussfaktoren, die für einen kontinuierlichen Fachkräftemangel sorgen.

Wichtige Work-Life-Balance

"Es wird oft als Rätsel betrachtet, warum es trotz einer guten Konjunkturentwicklung einen Fachkräftemangel gibt", sagt Lackinger. "Die Erklärung liegt in allen diesen Faktoren, beziehungsweise in ihrem Zusammenspiel." Welche Faktoren sind das? Da wäre beispielsweise ein Wandel im Stellenwert von Arbeit in der Gesellschaft.

Einen Beleg dafür bietet etwa die Europäische Wertestudie der Universität Wien. Laut einer Befragung von 2.111 Personen im Dezember 2021 wird Arbeit in sinkendem Ausmaß als wichtig für die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten betrachtet. Vergleichbar stark sinkt die Zustimmung zu der Ansicht, dass Arbeit Vorrang vor Freizeit habe. Grundsätzlich werde Arbeit weniger wichtig genommen, ihr Stellenwert sei in den vergangenen 30 Jahren drastisch gesunken, meint Lackinger. Hinzu kommt ein neues Selbstbewusstsein aufseiten der Arbeitnehmer.

Pensionswelle bei Babyboomern

Diese legen heute gesteigerten Wert auf eine gesunde Work-Life-Balance, haben während der Pandemie das Homeoffice zu schätzen gelernt und sind tendenziell anspruchsvoller bei der Auswahl ihrer Arbeitgeber. Ebenfalls relevant ist, dass die Generation der "Babyboomer", also die geburtenstarken Jahrgänge nach dem Zweiten Weltkrieg, den Arbeitsmarkt bereits fast vollständig in die Pension verlassen haben.

Auch die Corona-Pandemie hat das ihrige beigetragen. So sind insbesondere im Tourismus Fachkräfte, die vor den Lockdowns in Österreich gearbeitet haben, nicht wieder gekommen. "All das führt zu diesem Fachkräftemangel", sagt Lackinger. "Wir haben also ein geringeres Arbeitskräftepotenzial." Angesichts dieser weichen Faktoren sieht er die Unternehmen beziehungsweise deren Management in der Pflicht: "Sie müssen auf diese veränderten Bedingungen reagieren – zum Beispiel mit einer anderen Gestaltung von Arbeitszeiten oder dem Ermöglichen von Homeoffice."

Mangel in Pflege, Technik und Schule

Parallel zu den weichen gibt es auch "Hard Factors" als Treiber des Fachkräftemangels: "Man benötigt auch die passende Qualifikation, um einen Beruf ausüben zu können", sagt Lackinger. "Ohne Qualifikation geht es nicht." Die Antwort darauf lautet für den BFI-Chef wenig überraschend Weiterbildung. Und zwar mit Blick auf die konkreten Bedürfnisse von Wirtschaft und Gesellschaft. So werden heute besonders stark in den Pflegeberufen Arbeitskräfte gesucht, aber nach wie vor auch in den technischen Berufen. Nicht zuletzt wirft der Mangel an Lehrkräften ernsthafte Fragen dazu auf, wie die Schulbildung in Zukunft organisiert werden kann.

Weiterbildung ist in Österreich allerdings mit einer grundsätzlichen Schwierigkeit verknüpft: Wie soll man in vertretbarer Zeit eine Qualifikation erwerben? Das beinhaltet auch die Frage nach der Finanzierung. Arbeitgeber haben wenig Motivation, in die Qualifikation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu investieren, die sich dann womöglich – gut geschult – von der Konkurrenz abwerben lassen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst können sich Weiterbildung hingegen oft nicht leisten oder haben neben dem Berufsleben nicht die nötige Zeit dafür.

Präventive Weiterbildung

"Das ist nach wie vor die größte Hürde für den Beginn einer Weiterbildung", sagt Lackinger. "Das führt dann zu ungewollten Entwicklungen, dass zum Beispiel zu 75 Prozent Akademiker in Bildungskarenz gehen. Und sehr oft Frauen im Anschluss an die Babykarenz." Das sei aber nicht Sinn und Zweck der Bildungskarenz.

Viele Menschen können es sich nicht leisten, bis zu zwei Jahre lang mit Arbeitslosengeld über die Runden zu kommen. Außerdem hat das Arbeitsmarktservice (AMS) gar keinen gesetzlichen Auftrag zur Weiterbildung. "Genau den braucht es aber", fordert Lackinger. "Der Staat muss in eine präventive Weiterbildung investieren, die den Bedarf der Branchen deckt, aber die Möglichkeit wahrt, während dieser Zeit seinen Lebensunterhalt decken zu können", erklärt er.

Ihm schwebt ein Weiterbildungsservice vor, das analog zum Arbeitsmarktservice Menschen Weiterbildung ermöglicht. "Natürlich unter Einbeziehung potenzieller Arbeitgeber." Hier sind verschiedene Modelle denkbar. "Eine gute Qualifikation auf mittlerem Bildungsniveau dauert 1,5 bis zwei Jahre", sagt Lackinger. "Da kann man Formen finden, bei der die Leute schon während der Ausbildung in Teilzeit im Unternehmen arbeiten." (Raimund Lang, 8.1.2023)