Menschen, die süchtig nach Arbeit sind, werden gesellschaftlich meist jedoch gut anerkannt – denn sie tragen zum Gemeinwohl bei.
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Lange Arbeitstage, unaufhörliche Erreichbarkeit, schlechtes Gewissen ohne Arbeit und Entzugserscheinungen im Urlaub: Jeder zehnte Beschäftigte arbeitet suchthaft, hat eine Studie der Uni Braunschweig im Vorjahr herausgefunden. Vor allem Menschen in der Landwirtschaft und Führungskräfte sind betroffen. Elisabeth Wagner hat als Psychotherapeutin auch mit zwanghaftem Arbeiten zu tun.

STANDARD: Ist Arbeitssucht eine Krankheit?

Wagner: Eine anerkannte psychiatrische Diagnose ist die Arbeitssucht nicht. Von den sogenannten Verhaltenssüchten findet sich derzeit nur die Spielsucht in den psychiatrischen Diagnosesystemen. Nichtsdestoweniger gibt es natürlich auch andere Verhaltensweisen, die, wenn sie exzessiv ausgeübt werden, suchtartigen Charakter annehmen und sich negativ auf das Leben der Betroffenen auswirken: Kaufsucht, Internetsucht, Pornosucht oder eben die Arbeitssucht.

STANDARD: Wo ist die Grenze, ab wann ist es ein arbeitssüchtiges Verhalten?

Wagner: Die Übergänge zwischen engagiertem Arbeiten mit hohem persönlichem Einsatz und "Arbeitssucht" sind fließend. Die relevanten Kriterien sind die Vernachlässigung aller anderen Lebensbereiche und die Unfähigkeit, arbeitsfreie Zeit zu genießen: Hobbys und soziale Beziehungen werden vernachlässigt, immer mehr Zeit wird in die Arbeit investiert, arbeitsfreie Zeit kann nicht mehr genussvoll gestaltet werden, sondern wird als sinnentleert, häufig sogar belastend erlebt. Die Betroffenen sind unruhig und gereizt oder betäuben sich mit Alkohol und Beruhigungsmitteln, um zur Ruhe zu kommen.

Psychotherapeutin Elisabeth Wagner: Bewusstsein schaffen.
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STANDARD: Wie entwickelt sich Arbeitssucht?

Wagner: Arbeitssucht entwickelt sich vor allem dann, wenn eine hohe Identifikation mit der Arbeit besteht; es betrifft also eher Selbstständige und höhere Führungsebenen. Für viele Menschen lohnt es sich ja durchaus, ihre Zeit vor allem in Arbeit zu investieren: Sie verdienen dann mehr und genießen höhere soziale Anerkennung, sie erleben sich selbstwirksam. Je befriedigender Arbeit erlebt wird, je mehr finanzielle, soziale und ideelle Gratifikation sie bietet, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zur Vernachlässigung anderer Lebensbereiche kommt. Wenn sich dann noch im privaten Umfeld Probleme ergeben – Konflikte in der Partnerschaft, pflegebedürftige Angehörige, anstrengende Kinder –, dann kann die Flucht in die Arbeit weiterbefeuert werden.

STANDARD: Für Unternehmen eigentlich recht praktisch ...

Wagner: Das mag früher funktioniert haben. Heute ist diese zynische Haltung verpönt – nicht zuletzt, weil sie sich nicht mehr rechnet, da suchthaftes Arbeiten häufig zu schweren Erschöpfungssyndromen, Burnout und Depressionen und damit zu langen Krankenständen führt.

STANDARD: Wie erleben Sie solche Klientinnen und Klienten in der Therapie? Was ist überhaupt zu tun, um da rauszukommen?

Wagner: In der Behandlung ist die entscheidende Frage, ob es schon ein diesbezügliches Problembewusstsein gibt oder ob dieses erst geschaffen werden muss. Wenn jemand mit der Einstellung "Ich bin ein Workaholic" in die Therapie kommt, kann man damit beginnen, jenes Ausmaß an Engagement in der Arbeit zu definieren, das mit einem gesunden, befriedigenden Leben gut vereinbar ist. Und dann gilt es, sich den inneren und äußeren Faktoren zuzuwenden, die dieser Veränderung entgegenwirken: Erwartungen von Vorgesetzten oder Mitarbeitern, Perfektionismus, das Unvermögen zu delegieren, aber auch überhöhtes Bedürfnis nach Anerkennung oder die Tendenz zur Heroisierung der eigenen Leistungsfähigkeit. Um die sozialen Verstärker in den Blick zu bekommen, frage ich: "Wem zuliebe oder wem zufleiß arbeiten Sie so viel? Wem würde es nützen, wenn Sie weniger arbeiten? Wer würde sich darüber freuen?" Und um andere potenziell problemaufrechterhaltende Faktoren zu erfassen, frage ich: "Womit müssten Sie sich beschäftigen, wenn Sie nicht mehr so viel arbeiten würden? Welche Entscheidungen würden dann anstehen?" Wenn hingegen die Einsicht "Ich bin ein Workaholic" noch nicht vorliegt, muss erst ein Problembewusstsein geschaffen werden. Dafür sind Fragen nützlich, die wir auch bei anderen Suchtphänomenen stellen: "Gibt es jemanden in Ihrem Umfeld, der meint, dass Sie zu viel arbeiten? Inwiefern ist es gut für Sie, so viel zu arbeiten?" Meist gelingt es, über diese Art von Fragen einen Reflexionsprozess anzuregen, der dann auch oft zu einer Verhaltensänderung führt. In manchen Fällen aber auch zu der nun bewussten und gut reflektierten Entscheidung, das suchthafte Arbeiten fortzusetzen.

STANDARD: Gibt es Generationenunterschiede – also stirbt die Arbeitssucht mit den Jungen aus?

Wagner: Ja, ich glaube, es gibt Generationenunterschiede. Zumindest in den westeuropäischen Gesellschaften dürfte für die Generation Z "quiet quitting", also die Entscheidung, sich in der Arbeit nicht zu verausgaben und auf eine gute Work-Life-Balance zu achten, verbreiteter und typischer sein als exzessives oder suchthaftes Arbeiten. In den wenigen empirischen Untersuchungen, die es zum Thema Arbeitssucht gibt, ist die jüngere Generation derzeit dennoch häufiger betroffen. Ab dem 35. Lebensjahr nimmt die Häufigkeit der Arbeitssucht ab. Geschlechtsunterschiede finden sich in diesen Untersuchungen übrigens nicht, auch keine Unterschiede betreffend die Bildungsschicht. Die höchsten Raten an Arbeitssucht finden sich unter den Selbstständigen in der Landwirtschaft. (Karin Bauer, 14.1.2023)