Die Frage nach der Natur des Denkens und der Intelligenz beschäftigt die Menschen seit jeher und bekommt durch die zunehmende Verbreitung von verblüffenden Anwendungen auf künstlicher Intelligenz basierender Tools neuen Aufwind.

Noch ist die Intelligenz des Menschen in ihrer Gesamtheit sowohl in der Biologie als auch in der Technik unerreicht. Allerdings scheint die Beantwortung der Frage, was Intelligenz eigentlich ausmacht und ob echte Intelligenz auch außerhalb menschlicher Hirne möglich ist, immer schwieriger zu werden.

Intelligent im Kollektiv

Stare bilden im Flug besonders komplexe Muster.
Foto: REUTERS/Hazir Reka

Ein Phänomen der Natur stellt unsere Vorstellung von Intelligenz seit jeher auf die Probe: Schwärme von vielen kleinen Tieren können im Kollektiv erstaunlich geordnetes Verhalten zeigen. So sind etwa Ameisen in der Lage, komplexe Bauten zu errichten und einen perfekt funktionierenden Staat mit genauer Aufgabenteilung zu errichten, obwohl keines der Individuen das große Ganze überblickt. Ähnliches gilt für Vogel- oder Fischschwärme, die zu verblüffend geordnetem Verhalten fähig sind. Für die Science-Fiction ist das Phänomen eine mächtige Inspirationsquelle, sei es in dem herrlich minimalistischen Science-Fiction-Film "Phase IV" oder in Adrian Tchaikovskys Evolutionsroman "Die Kinder der Zeit". Aktuell ist das Phänomen auch Thema in der Netflix-Serie "Cabinet of Curiosities" des Oscarpreisträgers Guillermo del Toro.

Diese Phänomene sind deshalb so verwirrend, weil sie nicht zu der Idee passen, dass hinter Intelligenz irgendeine Art von konkretem Geheimnis steht, das über das Stoffliche hinausgeht. Die Idee hat Rene Descartes einst dazu animiert, sich den Ort des Denkens innerhalb des Körpers als Punkt ohne Ausdehnung vorzustellen, und zwar konkret in der Zirbeldrüse. Die Intelligenz von Schwärmen ist aber unbestritten ein Phänomen eines Kollektivs, dessen Grenzen nicht klar umrissen sind und dessen Entstehung sich mit dem schönen Wort "Emergenz" beschreiben lässt. Eines aber galt für Schwarmintelligenz bisher wie für andere Formen der Intelligenz: Es brauchte dafür lebende Wesen mit einer gewissen Fähigkeit zur Wahrnehmung und der Fähigkeit zu komplexen Reaktionen auf äußere Reize.

Physikalische Selbstordnung

Eine kürzlich im Fachjournal "Nature Communications" veröffentlichte Arbeit stellt diese Ansicht nun aber infrage. Ein Team um die beiden Physiker Frank Cichos und Klaus Kroy hat im Labor physikalische Effekte erzeugt, die man als Zeichen für Schwarmintelligenz interpretierte.

Ein Teil des Lasersystems, das zur Manipulation der schwimmenden Teilchen verwendet wurde.
Foto: Dr. Xiangzun Wang

Konkret arbeiteten sie mit winzigen schwimmenden Tröpfchen aus Melaminharz auf einer Wasseroberfläche, Kolloide genannt, die mit Nanopartikeln aus Gold versehen waren. Diese Teilchen waren klein genug, um der Brownschen Molekularbewegung zu folgen, die durch die Wärmebewegung der Wassermoleküle verursacht wird. Ihre Bewegungsmuster sind also eigentlich chaotisch. Doch den Forschern gelang es mithilfe von Lasern, ihnen eine Art Raketenantrieb zu verleihen, der es ihnen erlaubte, aus der chaotischen Bewegung auszubrechen und gezielt die Richtung zu ändern.

"Der experimentelle Aufbau bietet abgesehen von der in der Mikrophysik allgegenwärtigen Brownschen Zufallsbewegung eine vollständige Kontrolle über die physikalischen Parameter und Navigationsregeln der einzelnen Kolloide", erklärt Studienautor Cichos.

Kreisende Teilchen

Bei den Beobachtungen des Teams zeigte sich Verblüffendes: Das Verhalten der Teilchen erwies sich als komplexer als anfangs angenommen. Schon das Einführen einer einfachen Regel erzeugte Muster. Die Teilchen begannen teilweise spontan, einander zu umkreisen. Nötig war dazu nur die Regel, dass die Teilchen auf die Vorgabe, sich auf einen bestimmten Punkt zuzubewegen, mit einer gewissen Verzögerung reagieren sollen.

"Physikalisch gesprochen, kann jeder einzelne Schwimmer spontan die radiale Symmetrie des Aufbaus brechen und in Kreisbewegung übergehen", erklärt Studienautor Kroy. Entscheidend sei nur das Verhältnis von Strömungsgeschwindigkeit und Verzögerungszeit.

Ein Sardinenschwarm vor den Azoren. Ihr komplexes Verhalten hilft Fischschwärmen, sich vor Fressfeinden zu schützen.
Foto: imago images/blickwinkel

Die dafür verantwortliche Regel, die von den Forschern als "Schrecksekunden-Effekt" bezeichnet wird, ist deshalb so interessant, weil sie in Schwärmen biologischen Ursprungs auf natürliche Weise realisiert ist. Jedes Tier reagiert auf äußere Reize erst nach einer bestimmten Reaktionszeit. Der Effekt wurde bisher eher vernachlässigt, könnte aber von größerer Bedeutung sein als bislang angenommen. Das macht die Beobachtung auch für die Biologie interessant. Die Forschenden erhoffen sich, ihre experimentelle Anordnung künftig als Versuchslabor für Schwarmphänomene benutzen zu können.

"Alles in allem ist es somit gelungen, ein Labor für Schwärme von Brownschen Mikroschwimmern zu schaffen. Es kann als Baukasten für zukünftige systematische Untersuchungen von zunehmend komplexerem und möglicherweise noch unbekanntem Schwarmverhalten dienen", zeigt sich Cichos zufrieden. (Reinhard Kleindl, 18.1.2023)