Im Gastblog schreibt Cosima Rudigier über eine Tradition in Nepal, bei der ein Kind vorübergehend zur Gottheit erklärt wird.

Der Durbar-Platz in Kathmandu, Nepal. Eine der wichtigsten touristischen Attraktionen des Kathmandu-Tals beherbergt auch gleichzeitig das Zuhause eines nepalesischen Phänomens. Wem außerordentliches Glück zuteil wird, erhascht beim Besuch des "Kumari Ghar", der Residenz der "lebenden Kindsgöttin", einen Blick von ihr – aus einem Fenster im dritten Stock der südlichen Wand der Hofstruktur.

Inkarnation einer Göttin

Um die Kumari, die "lebende Göttin" Nepals, ranken sich viele Mythen und Geheimnisse, die die Faszination dieses Aspekts der nepalesischen Kultur weiterleben lassen. Es wird geglaubt, dass die Kumari die Inkarnation der hinduistischen Schutzgöttin Taleju Bhawani ist, die im Körper eines jungen Mädchens ihre menschliche Manifestation einnimmt. In Bezug auf den Begriff Inkarnation muss gesagt werden, dass dieser sich auf die menschliche Manifestation der Göttin bezieht und eine Erläuterung mit weiteren Abstufungen hier den Rahmen sprengen würde.

Um das Phänomen der Kumari zu verstehen, kann und muss jenes aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. In diesem Artikel soll auf die (mythologische) Geschichte der nepalesischen Kumari eingegangen werden und die Relevanz und kulturelle Ausprägung in der Gesellschaft des heutigen Nepals erläutert werden. Ebenfalls soll ein Fokus auf den Lebensstil der Kumari gelegt werden.

Eine Kumari wird im Alter zwischen zwei und vier Jahren als Repräsentantin einer Göttin ausgewählt.
Foto: EPA/NARENDRA SHRESTHA

Zunächst mag es hilfreich sein, die Etymologie des Wortes "Kumari" aufzuschlüsseln: Kumari (Sanskrit: कुमारी, femininum) bedeutet direkt übersetzt "kleines Mädchen" und wird in Nepal umgangssprachlich dazu benutzt, alle jungen, unverheirateten Mädchen zu bezeichnen. Die Verehrung der Kumari ist seit hunderten von Jahren ein Fokus religiöser Praktiken des Buddhismus und des Hinduismus und hat im Laufe der Zeit große akademische Aufmerksamkeit aus verschiedensten Disziplinen und Forschungsrichtungen auf sich gezogen.

Ein starrender König

Von einem mythologischen Blickwinkel aus betrachtet, lässt sich die Kumari-Tradition wie folgt herleiten: Vor der Zeit der Shah-Dynastie herrschte von 1201 bis 1769 nach unserer Zeitrechnung im Kathmandu-Tal die mächtige Malla-Dynastie. Die Mallas verehrten ihre eigene Göttin namens Taleju Bhawani. Der letzte König, den diese Dynastie hervorbrachte, war König Jay Prakash Malla, der König von Kantipur. Der Legende nach war die Göttin Taleju Bhawani dem König wohlgesinnt, weil er sie sehr verehrte. Für gewöhnlich besuchte Taleju Bhawani den König in seinem Palast, wo er von ihr "Darshan" empfing. "'Darshan' bedeutet auf Sanskrit 'Betrachtung' und bezieht sich in der indischen Philosophie und Religion auf das Betrachten einer Gottheit (...), einer verehrten Person oder eines heiligen Objekts. Die Erfahrung wird als wechselseitig empfunden und führt dazu, dass der menschliche Betrachter einen Segen erhält." (Britannica 2019)

Als der König eines Tages ein Würfelspiel mit der Göttin spielte, starrte er sie ununterbrochen an. Dies verübelte ihm die Göttin sehr, woraufhin sie in seinem Traum erschien und zu ihm sagte: "Da du die Würde einer Frau nicht respektieren kannst, werde ich von nun an nicht mehr zu dir in den Palast kommen, um mit dir Würfel zu spielen. Doch du wirst irgendwann eine Vision von mir in Form einer Kumari antreffen."

So geschah es. Nachdem die Göttin dem König für sein Fehlverhalten vergeben hatte, ließ er für sie südlich von seinem Palast ein wunderschönes Haus erbauen, wo sich, wie der Einleitung entnommen werden kann, noch heute die Residenz der Kumari befindet. Seit dieser Zeit wird die Schutzgöttin Taleju Bhawani in Form einer Kumari verehrt.

32 Attribute der Perfektion

Den Richtlinien der jahrhundertealten Tradition folgend, wird die Kumari im Kleinkindalter von zwei bis vier Jahren von Priestern und Astrologen ausgewählt. Nach Analyse ihres Geburtshoroskops1 und nach Bestätigung ihrer Herkunft, denn die Kumari muss aus einer Familie, die der Goldschmiedekaste der "Newari" angehört, stammen, durchläuft das junge Mädchen einen weiteren Auswahlprozess: 32 "Attribute der Perfektion" muss eine Kumari besitzen, um im Endeffekt unter allen anderen Kandidatinnen als einzige ausgewählt zu werden und um der Repräsentation der Göttin Taleju, der Staatsgöttin, der obersten Beschützerin der königlichen Abstammung und der jungfräulichen Mutter der Welt, gerecht zu werden. Die Kumari ist ein Symbol für Reinheit, Göttlichkeit, Stärke und Beschützung.

Klargestellt werden muss auch, dass es nicht eine einzige Kumari gibt, sondern dass es im Kathmandu-Tal 12 von ihnen gibt – sie dienen jeweils als Kumaris für verschiedene Städte des Tals. Doch die Kumari, von der hier die Rede ist, ist die höchste aller Kumaris, denn sie ist die königliche Kumari. Die königliche Kumari, auch Kumari von Basantapur, Hauptstadt der Malla Dynastie, genannt, ist die Beschützerin der Herrscher des Landes.

Die Liste dieser 32 Qualitäten ist lang und detailliert: Geduldig muss sie sein, makellos schön, mit pechschwarzen Haaren und Augen und feuchter Zunge. Geblutet haben darf sie noch nie, der kleinste Kratzer würde sie bereits disqualifizieren und unrein machen. Bis zur ersten Menstruation, die das Eintreten der Pubertät markiert, bekleidet die Kumari ihr Amt – danach wird eine neue Kumari gesucht; und der Prozess beginnt von vorne. Die Menstruation wird in der traditionellen nepalesischen Gesellschaft als Zeichen der Unreinheit angesehen.2

Eine Prüfung ohne Erinnerung

Der letzte Test, dem die Kumari sich auf dem Weg zu ihrer finalen Initiation unterziehen muss, ist zugleich der schwierigste und furchteinflößendste: In der Nacht von Kalaratri, der achten Nacht des Dashain Festivals, muss sie, ohne jegliches Zeichen von Angst, an 108 Büffeln vorbeigehen. Sie wird danach in den Tempel der Göttin Taleju geführt, wo die allerletzte Aufgabe, die die Göttin mit absoluter Ruhe meistern muss, vor ihr steht. Manche munkeln, dass es hunderte geschlachtete Tiere sind, die dort in einem Raum sind, andere glauben, dass ihr giftige Schlangen als letzte Probe vorgeführt werden. Die Kumari selbst erinnert sich nicht einmal an diese Aufgabe – sie ist zu jung.

Leben im goldenen Käfig?

All diese Voraussetzungen zu erfüllen, ist viel Druck für ein Kind, welches einen großen Teil seiner wichtigsten Entwicklungsjahre sprichwörtlich im goldenen Käfig verbringen wird.

Die Kumari wird als Kleinkind von ihrer Familie weggenommen, die sie nur ein einziges Mal pro Woche sehen darf. Selbst bei diesen Besuchen wird ein gewisser Abstand gewahrt und der Göttin höflich Respekt gezollt – denn sie ist, solange sie die Kumari ist, nicht Tochter, sondern eine Göttin, der Respekt gebührt.

Der Kumari werden spezielle Aufpasser zugeteilt, die sie erziehen und ihre alltäglichen Bedürfnisse erfüllen. In die Schule gehen die Mädchen nicht, denn sie haben religiöse Verpflichtungen gegenüber der nepalesischen Gesellschaft: Täglich sitzt die Kumari mehrere Stunden lang, in rot goldenes Brokat gehüllt, mit edlen Juwelen und Kopfschmuck geschmückt und mit hochgebürstetem Haar und Kajal um den Augen auf ihrem Thron. Bis zu zwölf Besucherinnen und Besucher empfängt sie täglich, um ihnen Darshan (siehe oben) zu geben oder als Omen zu fungieren; Personen aus der Politik und Staatsoberhäupter empfangen den Segen der Kumari gerne und oft und sehen sie als Medium, ihnen Glück zu verheißen.

350 Tage im Palast

Nur zu äußerst speziellen Anlässen verlässt die Kumari ihre Residenz – exakt an 15 Tagen im Jahr ist dies der Fall. Zwei der wichtigsten Feste, an denen die Kumari einen öffentlichen Auftritt begeht, sind die Indra Jatra und die Kumari Jatra – Prozessionen, zu denen sich auf den Straßen Kathmandus tausende und abertausende Menschen versammeln, um nur einen Blick der Kumari zu erhaschen. Selbst wenn sich die Kumari zu solch hohen Feiertagen unter die "normalen" Menschen begibt – die Füße der Kumari berühren den Boden nie, denn dies zählt als unrein. Oft haben ehemalige Kumaris noch Jahre nach ihrem Amtsantritt Schwierigkeiten, normal zu gehen.

Die ehemalige Kumari Preeti Shakya, die heute ein normales Leben als Studentin führt, erzählt von ihrem Erlebnis folgendermaßen: "Bis ich elf war, berührten meine Füße den Boden außerhalb des Palastes nie. Ich ging über weiße Stoffbahnen, die nur für mich ausgelegt worden waren. Es war wie ein roter Teppich."

Reform einer Tradition

Eine normale Kindheit ist dies mit Sicherheit nicht. Von einer ausreichenden Deckung der Grundbedürfnisse eines Kindes kann objektiv demnach nicht gesprochen werden. Die Abwesenheit von angemessener sozialer Interaktion, die in den prägenden Jahren des Kindesalters unabdingbar ist, ist ein großer Kritikpunkt an der Kumari-Tradition, genau so wie der unzureichende Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, solange das Mädchen das Amt der Kumari bekleidet.

1992 wurde von der Guthi Sansthan, eine dem Kulturministerium unterstellte Regierungsorganisation, die unter anderem auch für das Wohlergehen der Kumari zuständig ist, eine formale Bildung für Kumaris eingeführt. Von 12 bis 15 Uhr gibt es einen Lehrer, der kommt, um der Kumari grundliegende Dinge zu lehren, doch der Stoff von mehreren Schuljahren lässt sich so nicht unterbringen. Auf das normale Leben "danach" werden Kumaris unzureichend vorbereitet, was 2005 dazu führte, dass beim Obersten Gerichtshof Nepals von der NGO "Forum for Women, Law and Development" eine Klage eingereicht wurde, in der konstatiert wurde, dass die Kumari-Tradition ein Verstoß gegen Kinder- und Menschenrechte sei. Seit dieser Zeit sind die Rufe danach, dass die Regierung einen Mittelweg zwischen Tradition und Moderne finden müsse, lauter denn je.

Reform von innen, Blick von außen

Aus einem Interview mit dem Guardian mit einer der führenden nepalesischen Menschenrechtsanwältinnen namens Sapana Pradhan-Malla geht hervor, dass der Samen für eine andere Denkweise in Bezug auf diese Tradition gepflanzt ist: "Nepal hat die Konvention über die Rechte des Kindes ratifiziert. Sie besagt, dass man Kinder nicht im Namen der Kultur ausbeuten darf. (...) Und doch ist die Kumari gezwungen, ihre Kindheit aufzugeben. Stattdessen muss sie eine Göttin sein. Ihre Rechte werden verletzt."

Der Anpassungsprozess an das Leben nach dem "Göttinsein" ist schwierig für das Mädchen. Viele haben massive Probleme, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren, die verpasste Bildung nachzuholen oder gar einen sozialen Kreis aufzubauen. Sapana Pradhan-Malla führt die geforderten Änderungen im Interview weiter aus: "Diese Praxis muss reformiert werden. Das nepalesische Königshaus besteht aus Menschen; diese sind im Ausland ausgebildet worden. Sie müssen anfangen, die Dinge aus dem Blickwinkel der Kumari zu betrachten."

Nichtsdestotrotz muss abschließend gesagt werden, dass die Kumari-Tradition nicht mit westlichen Werten bewertet werden kann. Ohne das rituelle, religiöse und soziale System Nepals in Betracht zu ziehen, kann keine objektive Meinung gebildet werden. (Cosima Rudigier, 7.2.2023)