Im Gastblog schreibt Pauline Bellmann über den Einfluss von Filmen auf die Gesellschaft und ihre Rollenbilder – und stellt eine Forderung nach kritischer Distanz zum bewegten Bild auf.

Was bringt so ein Kinobesuch mit sich? Vielleicht Popcorn und Nachos, durchgesessene Kinosessel, einfach einmal abschalten? Aber sozialer Wandel? Das mag nicht das Erste sein, was uns beim Begriff "Kino" in den Kopf kommt, aber es stimmt: Film hat einen großen Einfluss auf unser Verständnis von der Welt um uns herum.

Wie groß dieser Einfluss wirklich ist, das können wir oftmals schon bei uns selbst im Kleinen beobachten. Die meisten von uns haben beispielsweise eine genaue Vorstellung davon, wie es in amerikanischen Highschools aussieht und zugeht. Nicht, weil wir schon einmal dort waren, sondern, weil wir dort schon unzählige Geschichten auf Leinwand oder Bildschirm verfolgt haben. Ob diese Bilder akkurat sind, sei dahingestellt. Doch das zeigt uns, dass Repräsentationen im Film unser Weltverständnis fast unbemerkt formen können.

In "Ms. Marvel" wird eine junge Frau zur Superheldin – eine Herausforderung an Erwartungshaltungen?
Foto: AP

Film formt und reproduziert Welt

Der Effekt von Filmen auf das menschliche Verhalten, Meinungen und Neigungen ist in der Wissenschaft kein Neuland. Film hat einen unbestreitbaren Einfluss auf unsere Interpretation des Umfelds – sowohl direkt als auch indirekt. Besonders durch das audio-visuelle Element tauchen Zuschauer und Zuschauerinnen schnell in die Welt des Films ein.

Neben der direkten Wirkung auf unser Weltverständnis, durch die Darstellung bestimmter Orte und Ereignisse, beeinflusst Film oft auch indirekt mithilfe bestimmter Narrative und klassischer Charaktertypen das Verständnis unserer Selbst und des menschlichen Miteinanders. Filmisch-darstellerische Gewohnheiten sind von bestimmten Stereotypen beeinflusst und können diese in einer Gesellschaft bestärken. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Darstellung von Frauen in Filmen, beispielsweise als das "Mädchen von nebenan", die "Femme fatale", die klassische "Jungfrau in Nöten" oder, ein neuerer Begriff, das "Manic Pixie Dream Girl".

Die negative Wirkung dieser vereinfachten Darstellungen führt zu filmischen Traditionen, die weibliche Figuren in Filmen verdinglichen. So werden Frauen oftmals als Handlungsobjekt dargestellt, das lediglich dazu dient, dem männlichen Hauptcharakter mehr Tiefe zu verleihen. Ist sie die Frau seiner Träume, die gerettet werden muss? Oder das Mädchen, das auftaucht und ihn in die Richtung seiner Träume leitet? Das Problem hier ist, dass weibliche Charaktere traditionell selten mit der gleichen Glaubwürdigkeit und Authentizität dargestellt werden wie ihr männliches Pendant.

Der Bechdel-Wallace-Test

Um herauszufinden, ob weibliche Charaktere in Filmen Tiefe besitzen, hat die Cartoon-Künstlerin und Autorin Alison Bechdel eine Methode entwickelt. Der sogenannte Bechdel-Wallace-Test stellt jedem Film mindestens drei grundsätzliche Fragen:

  1. Hat der Film zwei oder mehr weibliche Charaktere?
  2. Reden diese Charaktere miteinander?
  3. Reden die beiden über ein anderes Thema als einen Mann?

Das klingt grundsätzlich nicht schwer zu erreichen, dennoch meistern viele sehr bekannte Filme diese Schwelle nicht. Dazu gehören die gesamte originale "Star Wars"-Trilogie, "Die Braut des Prinzen", "Die Truman Show" und "Casablanca" oder, neuere Beispiele, die letzte Fortsetzung von "Jumanji", "Bullet Train" und "Nope". Was zeigt uns dieser Test nun? Zum einen, dass Frauen in vielen Filmen unterrepräsentiert sind und, selbst wenn sie eine Rolle spielen, oft auf das Mindeste reduziert werden.

Natürlich muss gesagt sein, dass nicht jeder Film, in dem wenige Frauen vorkommen, direkt sexistisch ist. Reporterin Neda Ulaby fasst zusammen, dass es bei dem Test nicht ausschließlich darum gehe, wie viele Frauen genau auf der Leinwand erscheinen, sondern um die Art und Tiefe der Darstellung.

Repräsentation als Schlüssel

Der Bechdel-Wallace-Test kann als Leitfaden zur kritischen Betrachtung weiblicher Repräsentation in Filmen genutzt werden. Besonders in Kinderfilmen, deren Zielpublikum oft noch sehr beeinflussbar ist, ist Repräsentation maßgeblich für ihr Weltverständnis. Einseitigkeit kann die Fähigkeit des kritischen Denkens in bestimmten Bereichen, so zum Beispiel Geschlechterdynamiken, einschränken.

Colin Stokes erklärt in seinem TED-Talk, dass klassische Heldenreisen-Geschichten zu oft einen männlichen Protagonisten in den Kampf um den großen Preis schicken. Bei diesem Preis handelt es sich nicht selten um eine Frau oder ihre Gunst. Es lässt sich auf ein klassisches "Prinzessin im Turm"-Narrativ herunterbrechen. Bei der Suche nach Filmen für seine Kinder achtet er nun gezielt darauf, dass Frauen als komplexe, eigenständige, fähige Menschen gezeigt werden anstatt als stumme Objekte, die der Handlungslinie des männlichen Protagonisten dienen. So lernen seine Kinder die wahre Diversität der Welt kennen und erhalten gleichzeitig eine Reihe von Vorbildern, die in einer geschlechtergerechten Gesellschaft gemeinsam Gerechtigkeit geltend machen.

TED

Die Werte, die in unserer Gesellschaft vorherrschen, sind nicht ausschließlich durch Filme geprägt, werden dort allerdings oft widergespiegelt und bestärkt. Filme, die aus reduktiven Traditionen ausbrechen, können helfen, diese im echten Leben zu hinterfragen und im besten Fall umzudenken. Neben Geschichten, die ein faires Miteinander abbilden, können auch solche Filme kritisches Denken fördern, die gezielt bestehende Ungerechtigkeit aufdecken. Langfristig können Menschen, deren Blick für ein faires Miteinander auf der Leinwand geschärft ist, Ungerechtigkeit und reduktive Muster auch in der Realität erkennen und in produktive Diskussion mit ihren Mitmenschen treten.

Film für sozialen Wandel

Die einflussreiche Wirkung von repräsentativen Narrativen in Filmen wird so auch gezielt für sozialen Wandel eingesetzt. Die pakistanisch-kanadische Filmemacherin Sharmeen Obaid-Chinoy legt den Fokus ihrer Dokumentationen direkt auf die Wunden der Gesellschaft. Für ihre Filme gewann Obaid-Chinoy bisher geschlagene zwei Oscars und sieben Emmy-Awards. Besonders ihr Film "A Girl in the River: The Price of Forgiveness" setzte Großes in Gang.

Die Dokumentation begleitet die 18-jährige Pakistanerin Saba Qaise nach einem versuchten Ehrenmord im Prozess gegen ihren Vater und Onkel. Ein sogenannter Ehrenmord beschreibt die Ermordung eines Familienmitglieds aufgrund von einer empfundenen Verletzung der Familienehre. In Qaises Fall schossen die beiden auf sie, da sie entgegen dem Willen ihrer Eltern selbstbestimmt heiratete. Obwohl sie anfangs gewillt war, eine gerechte Strafe zu fordern, gab sie durch den Druck der Umstände schließlich nach und vergab den Tätern, denen so eine Strafe erspart blieb. Dieses Schlupfloch im Gesetz wurde in Obaid-Chinoys Film besonders deutlich.

Der Film wurde 2015 mit einem Oscar für den besten Dokumentationskurzfilm prämiert. Nach der Oscar-Nacht dauerte es einige Monate harter Arbeit und Wahlkampf, dann wurde die Gesetzeslücke tatsächlich geschlossen. Dennoch war es damit nicht getan – Ehrenmorde sind durch die bloße Gesetzesänderung in Pakistan nicht gebannt. Doch weil die Veränderung, die ihr Film in Bewegung brachte, so groß war, konnte Obaid-Chinoy nicht einfach aufgeben.

Mit ihrem Team entwickelte sie eine besondere Idee, die helfen soll, die Dokumentation auch denen nahe zu bringen, die sonst keine Möglichkeit haben, Filme zu sehen. Um der ländlichen Bevölkerung Pakistan eine neue Perspektive auf Ehrenmorde aufzuzeigen, fuhr die prämierte Filmemacherin selbst mit ihrem Team in das Land. Dort geht es seither von Dorf zu Dorf in einem umgebauten Lastwagen, der als mobiles Kino dient.

Draußen, auf einer großen Leinwand am Lastwagen, zeigt das Team meist Kindern und Männern ihren prämierten Film. Doch damit nicht genug, sie zeigen auch Filme zu weiteren gesellschaftlichen Themen wie Umwelt, Gesundheit und religiöse und ethnische Toleranz. Das Ziel der Aktion ist es, kritisches Denken anzuregen, gegensätzliche Weltanschauungen aufzuzeigen und Diskussion anzuregen.

Das Innere des Lastwagens ist zu einem kleinen Kinosaal ausgebaut worden, in dem nur die Frauen geschlechtergetrennter Dörfer geschützt Filme sehen können. Das Team zeigt den Frauen Filme mit weiblichen Heldinnen und Anführerinnen – Frauen, die sich gegen Unterdrückung behaupten. Das Ziel ist, dass Ehrenmorde und die normalisierte Unterdrückung der Frauen nicht hingenommen werden. Frauen werden mögliche Vorbilder gezeigt, die ihre Stimme dafür nutzen, selbstbestimmt und sicher zu leben. Sie lernen ihre Rechte kennen und gehen in Diskussion.

Wer mehr von Sharmeen Obaid-Chinoy sehen möchte, kann neben ihren großartigen Dokumentationen auch ihr Marvel-Debüt erleben. In "Ms. Marvel" führt sie für Folgen vier und fünf Regie und erweckt die Stadt Karachi und die Teilung des ehemaligen Britisch-Indien in Indien und Pakistan für eine internationale Zuschauerschaft zum Leben.

In ihrem TED-Talk, in dem sie im Detail über die Geschichte des SOC Mobile Cinemas berichtet, erzählt sie über den Einsatz von Film für positiven sozialen Wandel.

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Was können wir nun also aus Filmen lernen? Das Potenzial von Filmen, unser Weltverständnis zu beeinflussen, kann für sozialen Wandel und Gerechtigkeit genutzt werden, aber auch um unseren eigenen Horizont zu erweitern. Das nächste Mal, wenn unsere Kinder einen Film schauen, können wir mit ihnen ins Gespräch treten und ihr Auge für die Rolle ihrer Vorbilder schärfen. Wenn wir ins Kino gehen, können wir in kritischen Austausch gehen und beginnen, das, was wir sehen, genauer zu hinterfragen: Kritik und Diskussion können uns weiterbringen, im Hinblick auf bestimmte Normen und Traditionen umzudenken oder sie zu festigen. So sehen wir Filme aus einem neuen Blickwinkel. (Pauline Bellmann, 1.9.2022)