Seitdem vor einem Jahr der russische Angriffskrieg in der Ukraine startete, flammt die Diskussion in Österreich immer wieder neu auf – jene um die Neutralität. Aktuell stellt ein überparteiliches Bündnis aus ehemaligen Politikern, Expertinnen und Unternehmern in einem offenen Brief die Neutralität infrage, darunter der EU-Abgeordnete Othmar Karas (ÖVP) und der Ex-FPÖ-Verteidigungsminister Herbert Scheibner. Sie fordern "eine ernsthafte Debatte" und die Verabschiedung einer neuen Sicherheitsdoktrin: "Friedliche Außenpolitik ist keine Garantie für Sicherheit", heißt es darin.

Soldaten und Waffen sollen, geht es nach der Politik, nur für die Landesverteidigung eingesetzt werden.
Foto: Roland Schlager

Die Neutralität steht immer wieder im Fokus. Ihre Abschaffung zu fordern kommt einem politischen Wagnis gleich. Nicht nur die Politik, auch die Bevölkerung hält in großer Mehrheit am Status fest. Man wolle zwar die "Sicherheitsarchitektur" neu denken, dabei aber nicht an der Neutralität rütteln, stellte zuletzt Europa- und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) klar.

Über ein Ende der Neutralität wird nicht nachgedacht, bekundete auch Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP). Politisch und in der Mentalität der Bevölkerung ist die Neutralität fest verankert. Edtstadler nannte die Neutralität gar "identitätsstiftend".

Was ist die Neutralität?

Taucht der Begriff in der Debatte auf, wird er meist sehr abstrakt verwendet. Zumeist versteht man darunter das Heraushalten aus allen Konflikten zwischen anderen Staaten. Ganz so einfach ist eine klare Definition aber nicht. Oftmals lässt der Neutralitätsbegriff großen Interpretationsspielraum. In Österreich bezieht sich ein Verfassungsgesetz, das Neutralitätsgesetz 1955, konkret auf den Begriff. Darin hat sich Österreich verpflichtet, keinem militärischen Bündnis beizutreten und keine militärischen Stützpunkte anderer Staaten auf eigenem Gebiet zuzulassen.

Zudem muss Österreich die "immerwährende Neutralität" durch seine Landesverteidigung wahren. Österreich ist neutral, betont die Regierung. Die FPÖ hält wiederum schon von Österreich mitgetragene EU-Sanktionen gegen Russland für untragbar.

Wie wird sie interpretiert?

Das war es aber auch schon mit der gesetzlichen Eingrenzung, sagt der Politikwissenschafter Klaus Poier von der Universität Graz: "Wie man sieht, ist das nicht sehr umfassend." Jegliche anderen Eingriffe in einen Krieg, etwa Waffenlieferungen, sind darin nicht näher definiert. Auch wirtschaftliche Sanktionen finden keine Erwähnung im Gesetz.

In der Realität gelte es in jedem Einzelfall zu überprüfen, ob etwa ein Gesetz oder eine politische Entscheidung im Widerspruch zur Neutralität stehe. So seien beispielsweise militärische Interventionen im Ausland auch für Österreich keine Ausnahme, sagt Politologe Poier. Unter anderem hat Österreich an "Friedenseinsätzen" der Vereinten Nationen teilgenommen. Diese standen offenbar nicht im Konflikt mit der Neutralität. Auch in seiner Haltung sei Österreich nicht neutral. Vor allem während des Kalten Krieges sei nicht immer klar gewesen, auf wessen Seite das Land ideologisch und wirtschaftlich stehe, befindet Poier.

Auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen stellte kürzlich klar: Österreich sei zwar militärisch neutral, seine Haltung "aber keineswegs". In letzter Instanz entscheidet der Verfassungsgerichtshof, ob eine politische Handlung mit der Neutralität und somit der Bundesverfassung vereinbar ist.

Wie stehen die Parteien dazu?

Die Neutralität ist ein Kind der Nachkriegszeit. Zwischen der österreichischen Regierung und den Alliierten – Frankreich, Vereinigtes Königreich, USA und Sowjetunion – wurde im Jahr 1955 ein Staatsvertrag unterschrieben. Der Tag, als die Neutralität Gesetz wurde, wird heute am 26. Oktober als Nationalfeiertag gefeiert. Historikerinnen und Historiker sind sich einig, dass die Neutralität Produkt der Verhandlungen um den österreichischen Staatsvertrag war. Die türkis-grüne Regierung lehnt eine Debatte über die Abschaffung ab.

Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) befand schon des Öfteren: "Österreich war neutral, ist neutral und bleibt neutral." Momentan halten alle, die Regierung wie auch die Opposition, an der Neutralität fest. Die Neos gehen noch am weitesten, indem sie zwar ebenfalls nicht ihr Ende fordern, diese in der jetzigen Form aber zumindest hinterfragen: Die Neos fordern ein "Ende der Naivität" und die Bildung eines europäischen Heeres.

Auch dass Schweden und Finnland durch die russische Invasion ihre Position überdacht haben und sich inzwischen auf dem Weg zur Nato-Mitgliedschaft befinden, hat hierzulande keinen Meinungsumschwung gebracht. Zeitgleich sehen ÖVP und Grüne dennoch die Notwendigkeit von Sanktionen gegen Russland.

Auch die Budgetsteigerung für die Landesverteidigung bezeichnet die Regierung als "Reaktion auf die veränderte sicherheitspolitische Lage in Europa". Das laut Verteidigungsministerin Klaudia Tanner "historische Budget" sei "Änderungen in der europäischen Verteidigungspolitik und dem Trend hin zu verstärkten Investitionen in die Fähigkeiten der Armeen geschuldet".

Bereits seit dem EU-Beitritt hat sich Österreich zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU verpflichtet. Die Verfassung hält fest, dass sich Österreich als Teil der europäischen Sicherheitspolitik sieht. Gebe es einen Angriff auf einen anderen EU-Staat, wäre das ein Angriff auf die österreichische Rechtsordnung, sagt Poier.

Was meint die Bevölkerung?

Die Einstellung der Bevölkerung zur Neutralität ist eindeutig und hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert. Mehr als die Hälfte äußert sich in Umfragen stolz auf den neutralen Status Österreichs, das ergab eine STANDARD-Umfrage im Jahr 2022. In einer weiteren sprechen sich rund 70 Prozent für ihre Beibehaltung aus.

Diese Werte waren vor 20 Jahren schon ähnlich. Seit dem Ukraine-Krieg geht die Zustimmung leicht zurück: Im Oktober 2019 gaben noch 79 Prozent an, an der Neutralität festzuhalten.

Kann man sie abschaffen?

Würde Österreich seine Neutralität dennoch aufgeben wollen, bräucht es dafür eine Änderung in der Verfassung, präziser: "Das Neutralitätsgesetz müsste schlichtweg aus der Verfassung gestrichen werden", erklärt Poier.

Das Parlament könnte die Neutralität ebenfalls abschaffen: Dafür braucht es aber zumindest zwei Drittel der Abgeordneten, die dieser Verfassungsänderung zustimmen. Eine Volksabstimmung ist also zwar nicht notwendig, würde aber aufgrund der Brisanz vermutlich gefordert werden. (Max Stepan, 22.2.2023)