"Innerhalb Europas gibt es keine Blöcke, zwischen denen man neutral sein kann", sagen der Neos-Mitgründer Veit Dengler und der Publizist Rainer Nowak in ihrem Gastkommentar. Sie fordern eine breite Debatte über mögliche sicherheitspolitische Weichenstellungen Österreichs.

Österreich schleppt die Neutralität wie einen schweren Rucksack herum. Gehört ein anderer Weg eingeschlagen?
Foto: Imago / Isabelle Ouvrard

Wladimir Putin verdient keine Nachsicht. Wladimir Putin verdient kein Mitgefühl, keine Relativierung. Wir müssen uns dennoch mit Wladimir Putin, dem Aggressor, beschäftigen. Der russische Regierungschef ist nach wie vor die entscheidende Person, wenn es um den Krieg in der Ukraine geht.

Schwierige Situation

Man muss kein Spieltheoretiker sein, um zu verstehen, dass sich Putin in einer strategisch schwierigen Situation befindet. Vor einem Jahr startete der russische Langzeitpräsident die "Spezialoperation" gegen die Ukraine und glaubte nach allem, was man weiß, das Land innerhalb weniger Tage und Wochen in die Knie zu zwingen. Der Plan scheiterte, Russland befindet sich in einem schmutzigen Stellungs- und Abnützungskrieg gegen einen militärischen Gegner, dessen Stärke und Durchhaltewillen nicht nur er massiv unterschätzt hatte.

Putins Optionen sind überschaubar: Aufzugeben ist keine, Schmach und Schande wären ebenso die Folge wie sein politisches Ende. Ein Sieg ist weit entfernt. Im Gegenteil: Die Nato-Staaten liefern mehr und mehr Waffen, der Faktor Zeit spricht trotz oder vielleicht wegen der Einziehung von immer mehr Soldaten nicht unbedingt für Putins Chancen. Eine nukleare Eskalation in Richtung Nato würde Putin aus der Emotion heraus möglicherweise wagen, doch die Ratio sagt ihm, dass dies wenig Aussicht auf Erfolg hätte.

Paradoxe Intervention

Was also tun? Eine paradoxe Intervention des Kreml? Ein Signal, dass Putin bereit ist zu eskalieren, dass er weiterhin unberechenbar ist; einen Versuch unternehmen, Europa politisch zu spalten, die Front gegen Russland zu brechen, ohne eine direkte militärische Intervention der Nato fürchten zu müssen? Warum nicht ein Land schmerzhaft treffen, das kein Nato-Mitglied ist, dennoch der Sanktionen-Phalanx angehört und EU-Mitglied ist. Österreich würde sich anbieten. Putin verstand das Land lange als heimlichen Verbündeten. Vom Bundespräsidenten abwärts hatte ihn fast die gesamte politische Elite hofiert, eine Außenministerin war buchstäblich vor ihm in die Knie gegangen, mehr roter Teppich, Schnaps und Liebedienerei waren nicht möglich. Doch mit dem Ukraine-Angriff war dann Schluss, die österreichische Regierung trägt die Sanktionen mit, ist auch rhetorisch klar aufseiten der empörten Weltöffentlichkeit.

Umso stärker das Signal, wenn Putin beschließen sollte, dass sich eine ballistische Rakete auf ihrem Weg in die Ukraine nach Österreich "verirrt" – mit zivilen Opfern bei uns, die dafür halt in Kauf genommen, ja sogar eingeplant werden. Das Signal wäre unmissverständlich: Putin ist nicht nur bereit, den Krieg in der Ukraine fortzusetzen, sondern auch, ihn auszuweiten. Was würde passieren? Die Aufregung wäre gewaltig, die Empörung der westlichen Politik unüberhörbar. Der politische Zwist in Ländern wie Deutschland und Frankreich würde schnell giftig werden. Die "Verhandlungen um jeden Preis"-Fraktion würde sich gestärkt fühlen. Aber sonst? Ein militärischer Gegenschlag? Österreich könnte militärisch nicht, die Nato-Freunde müssten politisch nicht. Bündnisfall wäre das keiner.

"Neutralität schützt nicht, es sei denn, sie ist militärisch so ernsthaft und stark wie die der Schweiz."

Theoretisch gilt der auch unter den europäischen Unionspartnern. Aber würde sich etwa Deutschland direkt hineinziehen lassen und würde seinerseits Raketen steigen lassen – als offiziellen Gegenschlag. Wohl kaum.

Neutralität schützt nicht, es sei denn, sie ist militärisch so ernsthaft und stark wie die der Schweiz. Österreichs Neutralität ist eine symbolische und rhetorische. Das geschilderte Szenario mag weithergeholt und unrealistisch sein, aber entgegen dem Debattenverbot Karl Nehammers könnte es Anlass sein, über die unsolidarische Position Österreichs nachzudenken und ergebnisoffen zu diskutieren. Das ist auch das Anliegen in dem offenen Brief, den wir gemeinsam mit anderen – quer durch das politische Spektrum – unterschrieben haben.

Neue Blöcke

Dass mehr Geld in das Bundesheer investiert wird, klingt erfreulich, ist aber bisher eine Ankündigung. Eine ernsthafte Neuaufstellung des Heeres angesichts der neuen Bedrohungslage lässt aber auf sich warten. Es ist auch unklar, wofür das Bundesheer gerüstet sein muss: mit allen Waffengattungen das Territorium Österreichs vereidigen, was die neutrale Schweiz mit einem mehr als doppelt so großen Verteidigungsbudget kaum hinbekommt, oder als Teil eines größeren Sicherheitsverbundes – die EU, die Nato? – einen Beitrag leisten? Der Ernst der Lage verdient, dass wir mögliche sicherheitspolitische Weichenstellungen diskutieren. Die Neutralität stammt aus einer Zeit, in der der Kontinent geteilt war, mitten darin Österreich. 70 Jahre später ist Europa politisch geeint, fast zur Gänze Nato-Gebiet.

Innerhalb Europas gibt es keine Blöcke, zwischen denen man neutral sein kann. Vor 40 Jahren machten die Länder der EU noch mehr als 30 Prozent des weltweiten Bruttoinlandproduktes aus, heute sind es weniger als 15 Prozent. Die Welt einschließlich Russlands differenziert nicht zwischen einzelnen Ländern der EU; Neutralität zwischen den neuen Blöcken, angeführt von den USA und China, ist als EU-Mitglied weder wahrscheinlich noch wünschbar.

Keine Verteidigungsfähigkeiten

Die EU wäre ein natürlicher sicherheitspolitischer Hafen, was sie rechtlich übrigens schon ist, auch wenn die österreichische Politik ungern darüber redet. Alleine: Die EU hat keine selbstständigen Verteidigungsfähigkeiten und stützt sich durch die Nato auf die USA und ihren Schutzschirm. Die Nato wäre der andere natürliche Hafen, in den nun auch die anderen Neutralen, Finnland und Schweden, einlaufen. Allerdings ist noch nicht klar, ob der Isolationismus der Regierung des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump ein vorübergehendes Phänomen war oder ob er sich als Trend erhärten wird und die Nato de facto auf ein europäisches Bündnis zurückfallen wird.

Egal, wohin die Reise geht. So weiterwurschteln wie bisher ist unverantwortlich. Eine Insel der Seligen muss man auch verteidigen (lassen) können. (Veit Dengler, Rainer Nowak, 20.2.2023)