Im Wein liegt die Wahrheit, heißt es. Will man sie verstehen, muss man in die Vergangenheit zurück. Es ist lange her, dass die nordamerikanische Reblaus ihren Weg nach Europa gefunden hat, auch die Erreger des Mehltaus machten sich Mitte des 19. Jahrhunderts am Kontinent breit. Die Schädlinge bescherten den Winzern dramatische Ernteverluste – das Ende des Weinbaus schien nah. Die rettende Idee war, Reben aus Europa auf robuste amerikanische Wurzeln zu stecken.

Bis heute spritzen die meisten Weinbauern regelmäßig Gift, um die empfindsamen Weinstöcke vor Unbill zu schützen. Fungizide gegen Mehltau, Insektizide gegen die Reblaus, Herbizide gegen Unkraut. Es kommt einiges zusammen – nicht nur im konventionellen Weinbau. Auch im Bioweinbau werden Kupfer- und Schwefelpräparate ausgebracht. In rauen Mengen und unter gewissen Umständen können auch sie der Natur schaden.

EU will Pestizide halbieren

Nicht nur der Wein – ob bio oder konventionell – verlangt nach Unterstützung. Obstbauern oder Gemüseproduzenten, auch sie greifen auf den Zauberkasten der hilfreichen Mittelchen zurück. Mit einem Unterschied: Biobauern nutzen Präparate, die pflanzlichen, tierischen, mikrobiellen oder mineralischen Ursprungs sind. Diese zersetzen sich häufig schneller in der Natur als rein chemische Mittel und wirken sich nicht nachteilig auf die menschliche Gesundheit aus. Dafür wirken sie bei hohem Krankheitsdruck der Pflanzen oft weniger als Chemie – und es braucht flankierende Maßnahmen.

Mit weniger Pestizideinsatz sei vieles nicht zu bewerkstelligen, fürchtet so mancher Landwirt. Auch die Biobauern setzen Wirkstoffe ein.
Foto: Imago / Vincent Isore

All das rückt mit dem Green Deal der EU wieder in den Fokus. Unter seinem Dach soll die Biolandwirtschaft EU-weit bis 2030 auf 25 Prozent ausgeweitet und der Einsatz von Pestiziden halbiert werden. Das ruft nicht nur zahlreiche landwirtschaftliche Produzenten auf den Plan, die um ihre Existenz fürchten. Auch die Chemiebranche lobbyiert heftig. Riesen wie Bayer oder Syngenta, vertreten vom Europäischen Verband für Pflanzenschutz, warnen vor "ökologischen Zielkonflikten, die mit einer Zunahme der Biolandwirtschaft einhergehen", wie dem "Anstieg des Gesamtvolumens des Pestizideinsatzes in Europa".

Letzter Ausweg

Die Bioerzeuger treffen solche Prognosen ins Mark. Jan Plagge, Präsident des Europäischen Dachverbands der Biolandwirtschaft Ifoam Organics Europe, betonte bei einer virtuellen Veranstaltung, 90 Prozent der Bioflächen kämen ohne Pestizide aus. Biopestizide wie Kupfer, Schwefel, Backpulver oder pflanzliche Öle seien der letzte Ausweg für Kulturen wie Obst und Wein. Die Produzenten seien bedacht, vorbeugend auf robuste Sorten, sinnvolle Fruchtfolgen und Bodengesundheit zu achten. Es gibt wenig Grund, daran zu zweifeln. Dass die Biolandwirte nicht ohne Wirkstoffe auskommen, zeigen die Zahlen.

5862 Tonnen an so genannten "Pflanzenschutzmitteln" wurden 2021 in Verkehr gebracht. Zuwachs gab es gegenüber dem Jahr davor etwa bei den inerten Gasen, die etwa dem Lagerschutz dienen, bei den Herbiziden (+0,2 Prozent), bei den Fungiziden (ohne Schwefel und Kupfer, + 15,5 Prozent).

1515 sogenannte Pflanzenschutzmittel waren Ende 2021 laut "Grünem Bericht" in Österreich zugelassen. 5862 Tonnen wurden in Verkehr gebracht, allein zwei Millionen Kilogramm Insektizide. Bei Schwefel (723 Tonnen) schrumpfte die Verkaufsmenge um 12,8 Prozent, bei kupferhaltigen Wirkstoffen stieg sie um 113,1 Prozent auf . Der Anteil an chemisch-synthetischen Wirkstoffen wuchs um 5,9 Prozent auf 2074,6 Tonnen – macht 35 Prozent der Mengen. Der Anteil der für die biologische Produktion erlaubten Wirkstoffe lag mit 3787,4 Tonnen bei 65 Prozent – eingerechnet sind sogenannte inerte Gase (2.287,2 Tonnen; zugelassen ist nur Kohlendioxid), die etwa gegen Vorratsschädlinge beim Saatgut in der Lagerhaltung zum Einsatz kommen. Ohne sie läge der Anteil bei 42 Prozent.

Biopestizid versus Pestizid

Und wie ist es um die Gefährlichkeit bestellt? Ifoam beauftragte die NGO Global 2000, dies herauszuarbeiten (siehe dazu die zugrunde liegende toxikologische Bewertung). Für den Studienautor und Biochemiker Helmut Burtscher-Schaden besteht kein Zweifel, dass der Unterschied zwischen rein chemischen Pestiziden und Biopestiziden enorm ist. 256 Pestizide der konventionellen Landwirtschaft und 134 jener, die auch bei Bio erlaubt sind, hat er auf Gefahrenpotenziale analysiert.Das Kräftemessen geht für Burtscher-Schaden eindeutig zugunsten von Bio aus. Von den 256 nur in der konventionellen Landwirtschaft erlaubten Wirkstoffen trugen demnach 55 Prozent Hinweise auf Gesundheits- oder Umweltgefahren. Bei den 134, die auch in der Biolandwirtschaft erlaubt seien, seien es drei Prozent. Warnhinweise, etwa über krebserregende Substanzen, fand er bei 16 Prozent der in der konventionellen Landwirtschaft verwendeten Pestizide, aber in keinem Biopestizid.

Strengere Regeln

Was die Gefährlichkeit der Pestizide betrifft, so sieht das die grüne EU-Abgeordnete Sarah Wiener ähnlich. Sie drängt auf strengere Regeln, wie aus einem Berichtsentwurf hervorgeht, der dem STANDARD vorliegt. Die im Europaparlament für das Thema zuständige Grünen-Politikerin schlägt Nachbesserungen beim Vorschlag der EU-Kommission vom Sommer 2022 vor. Unter anderem eine stärkere Reduktion besonders gefährlicher Pflanzenschutzmittel um 80 statt um 50 Prozent. Das betreffe die Pestizide, die als Substitutionskandidaten definiert sind und deren Ersatz durch weniger gefährliche Alternativen die EU schon 2009 beschlossen habe, bei deren Umsetzung die EU-Staaten aber säumig seien.

Im Februar rollten Frankreichs Landwirte gegen die Pläne der EU an.
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Zudem soll die EU-Kommission nach der Vorstellung Wieners eine Steuer für die Chemikalien ausarbeiten, deren Höhe von den Risiken ihres Einsatzes abhängen soll. Außerdem solle die Pestizidindustrie für Schäden aufkommen, etwa die Reinigung von pestizidbelastetem Trinkwasser. Wiener muss nun für ihren Bericht, den sie diesen Donnerstag vorstellen will, eine Mehrheit im Umweltausschuss finden. Was den Wein betrifft, der etwa in der Wachau, einem sensiblen Gebiet, wächst, so schlägt die EU-Abgeordnete Ausnahmen für Biopestizide vor. Die Kommission hatte für solche sensiblen Gebiete auf ein komplettes Pestizidverbot plädiert.

Indikator mit Schwächen

Hinsichtlich der Wahrheit ortet Wiener Schwächen: Der Risikoindikator (HRI 1) der Kommission soll einen Vergleich in den Mitgliedsstaaten erlauben. Allein er führe zu Verzerrungen. Backpulver würde aufgrund der höheren Einsatzmenge gefährlicher eingestuft als ein Fungizid, das bereits auf der Substitutionsliste stehe. (Regina Bruckner, 27.2.2023)