Stellen wir uns vor, Beate Meinl-Reisinger wäre ab morgen Kanzlerin für eine ganze Legislaturperiode – mit absoluter Mehrheit. Die Neos könnten Österreich nach ihren Vorstellungen und Wünschen gestalten. Wie würde das Land in fünf Jahren aussehen? Was hätte sich konkret geändert? Unser Schulsystem? Hätte Österreich gar seine Neutralität aufgegeben?

Meinl-Reisinger wird mutmaßlich nie Bundeskanzlerin von Österreich, sie ist Chefin einer gemächlich wachsenden Kleinpartei. Das tut aber wenig zur Sache. Es geht um das Gedankenexperiment, und das lässt sich auf alle Parteien übertragen: An welchen Schrauben würde Herbert Kickl als Alleinregierender drehen? Massiver Grenzschutz? Vermutlich. Aber würde ein EU-Austritt diskutiert oder doch gleich vollzogen? Wären jegliche Klimaziele völlig irrelevant?

Hält eine Rede über seinen "Zukunftsentwurf Österreich 2030": Kanzler Karl Nehammer (ÖVP).
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Und eine sozialdemokratische Kanzlerin – oder ein Kanzler? Würde die SPÖ mit absoluter Mehrheit weite Teile des Landes verstaatlichen? Wäre Österreich nach fünf Jahren roter Regentschaft sozial gerechter? Warum? Und wer zahlt die Pensionen der Babyboomer? Die ÖVP könnte ohne Grüne noch mehr Polizisten an Grenzen schicken und im großen Stil Unternehmenssteuern senken. Aber die Sanierung des Staatshaushalts? Und wie würden die Grünen wohl als Alleinregierende mit breiten Fluchtbewegungen Richtung Österreich umgehen?

Wenn man in den Parteien nach großen Ideen und mutigen Gedanken für die Zukunft fragt, fallen die Antworten meist lahm aus. Es wird auf Parteiprogramme (die kaum jemand liest) und Gremienbeschlüsse (von denen kaum jemand weiß) verwiesen. Die österreichische Politik ist visionsarm und stimmungsgetrieben. Wahrscheinlich schon lange, jedenfalls jetzt. Der Horizont vieler politischer Player endet beim kommenden Wahltermin. Schließlich will jeder und jede wiedergewählt werden. Das ist verständlich. So kann es trotzdem nicht weitergehen.

Ehrlicher Wettbewerb

Nach den Jahren der Krisenpolitik und akuten Problembewältigung ist wieder Zeit für Visionen und große Würfe. Würde die Politik ein ehrlicher Wettbewerb der besten Ideen, könnte sie nebenbei vielleicht auch ein wenig Vertrauen zurückgewinnen. Genug gestritten? Nein. Aber bitte sachlich und über Themen von Relevanz – und das sind bei weitem nicht nur die sehr relevanten Komplexe Klima und Migration. Die Zukunft der Arbeit, künstliche Intelligenz, Österreichs Rolle in einer neu geordneten Welt, progressiver Strafvollzug, moderne Demokratie – think big!

Für Anfang März hat Kanzler Karl Nehammer eine Rede angekündigt, in der er seinen "Zukunftsentwurf Österreich 2030" vorstellen möchte. Die Idee ist so bahnbrechend wie banal. Eigentlich müssten Politikerinnen und Politiker jederzeit dazu in der Lage zu sein, ihre politische Vision verständlich zu machen – jedenfalls aber, wenn sie wollen, dass man sie wählt. Vor der kommenden Nationalratswahl – wohl 2024 – sollten alle Spitzenkandidaten ihren "Zukunftsentwurf" für Österreich vorlegen. Gerne auch mit Ideen über 2030 hinaus.

Die Welt wird in den Augen vieler zunehmend komplex und unbegreiflich, Veränderungen geschehen schnell, greifen tief – und ein immer größerer Teil der Bevölkerung fühlt sich zurückgelassen. Das heißt aber nicht, dass Menschen für komplexe Gedanken und Lösungen nicht mehr zugänglich wären – man müsste sie bloß finden und erklären. (Katharina Mittelstaedt, 4.3.2023)