Porträt ohne Hauskatzen: die Produktdesignerin Inga Sempé in ihrem Atelier.
Foto: Claire Lavabre

Die Lampe baumelt an Inga Sempés gekrümmtem Finger. "Schauen Sie mal", sagt die Designerin. Sie steht auf, holt aus einer Ecke ihres Ateliers einen Stock hervor und setzt die batteriebetriebene Leuchte Mousqueton obenauf. Die Lampe mit dem geschwungenen Schirm erinnert an ein Vogelhäuschen, "funktioniert übrigens auch zum Picknicken". Sie stellt das Teil ab, Ende der Vorstellung.

Wie ein Vogelhäuschen sieht das neue Lampenmodell Mousqueton für Hay aus.
Foto: Hay

Sempé setzt sich wieder an den schmalen Holztisch im Eingangsbereich des Pariser Ateliers. Das Studio befindet sich in einem frei stehenden Backsteingebäude im zehnten Arrondissement, unweit des Gare de L’Est. Draußen neben der Tür stehen bepflanzte Tontöpfe Spalier, drinnen lagern Lampen und Pfannen in den Regalen, es herrscht entspannte Ordnung. Transparente Glasbausteine beleuchten den Raum, an seinem Ende thront ein Ligne-Roset-Sofa, das schon bessere Tage gesehen hat.

Kaffee am Morgen

Wie ein durchschnittlicher Arbeitstag von Inga Sempé aussieht? "Ziemlich langweilig", winkt die 55-Jährige ab. Der Tag beginnt mit einem Kaffee in einer Bar um die Ecke, von halb zehn bis 18 Uhr arbeitet die Designerin im Studio. Um nach Hause zu kommen, muss Sempé nur einige Stufen steigen. Sie wohnt mit ihrer Familie, einem Sohn und einer Tochter, im zweiten Stock, ihr Partner ist der Designstar Ronan Bouroullec, der mit seinem Bruder Erwan zusammenarbeitet. Ob die Kinder ihre Sachen mögen? Das sei nicht weiter wichtig, nur so viel: Die Tochter zeige mehr Interesse.

Die Antworten Sempés fallen freundlich, präzise, bestimmt aus, man könnte die französische Designerin auch als höflich-distanziert bezeichnen. Sempé ist schließlich seit über zwanzig Jahren im Geschäft. Fragen nach dem Tagesablauf findet sie vermutlich unnötig, aber nun gut, sie will mal nicht so sein: "Wir bauen Papiermodelle, verbringen viel Zeit am Computer, suchen Farben und Materialien aus." Mit "wir" ist auch ihr dreiköpfiges Team gemeint, das im Hintergrund nahezu geräuschlos an den Computern arbeitet.

Spiegel an der Wand: Sempé hat im Laufe ihrer Karriere einige entworfen, 2018 ein Modell für Magis.
Foto: Studio Sempix, Hay, Iittala, Hay, Studio Sempé, Inga Sempé

Außerdem wären da noch zwei Katzen, die während des Gesprächs unsichtbar bleiben, aber manchmal auf Produktfotos auftauchen. Auch Boubou, der Hund von Mitarbeiterin Camille, ist an diesem Vormittag nicht da, ausnahmsweise. "Am liebsten hätte ich noch einen Esel", sagt die Designerin. Sie meint das ernst, es sei ihr wichtig, Freude am Arbeitsplatz zu haben: "Nichts ist schlimmer als ein steriles weißes Büro." Sie bevorzuge es klein und intim oder, wie sie es ausdrückt: "lovely and messy".

Alessi und Ligne Roset

Inga Sempé ist eine der weltweit bekanntesten Produktdesignerinnen, sie hat seit ihren Anfängen um die Jahrtausendwende für Hay Lampen und Spiegel, für Alessi Besteck, für Ligne Roset Sofas, mit Iitala Bilderrahmen entworfen und in einer männlich dominierten Branche den Weg für den weiblichen Nachwuchs bereitet. Ihre Entwürfe sind durchdacht und klar, aber nie minimalistisch. Oft bestechen sie durch Witz oder einen besonderen Dreh. So wie die Klemmleuchte w153 für Wästberg, die an einen eleganten Fliegenpilz oder Sonnenschirm erinnert. Oder die Hay-Leuchte Matin mit dem plissierten Schirm, die in der Farbe Gelb in Sempés Atelier an der Decke klebt.

Plissee in Farbe: Inga Sempés 2021 für den dänischen Hersteller Hay entworfene Faltlampe Matin ist momentan auf Instagram sehr präsent.
Foto: Hay

Bis zur letzten Schraube

Das Magazin "Wallpaper" listet die Französin seit Jahren regelmäßig unter den weltweit gefragtesten Designerinnen und Designern. Doch Sempé hat früh beschlossen, ihr Unternehmen klein zu halten. "Mein Ehrgeiz besteht darin, Objekte zu entwerfen." Das tut sie lieber selbst, als einen Mitarbeiterstab um sich herum zu versammeln. Gute Designer mache schließlich aus, sagt die gebürtige Pariserin, dass sie jeden Arbeitsschritt eines Produktes verstehen – "sonst wird von außen eingegriffen". Diese Vorstellung ist Sempé ein Graus. Sie interessiert sich für das Technische, bis zur letzten kleinen Schraube. Dreht sich letztlich nicht alles um Details? Auch sonst behält die Designerin die Dinge weitestgehend selbst in der Hand. Interviewtermine werden mit ihr persönlich vereinbart, sogar den Instagram-Account befüllt sie eigenhändig.

Die Entwürfe der Topdesignerin Inga Sempé haben immer einen besonderen Dreh.
Foto: Claire Lavabre

Lieber aber entwirft Sempé alltägliche Gegenstände. Wenn andere von großen Würfen reden, spricht sie lieber von ihrem Faible für Kronkorken. Die finde sie spannender als einen Manet, hat sie einmal in einem Interview gesagt – und in Frankreich viele provoziert, dabei gehöre Manet zu ihren Lieblingskünstlern, meint Sempé achselzuckend. Was die Designerin damals mit ihrem Vergleich erklären wollte: dass ihr Herz für das scheinbar Wertlose schlägt, für Dinge, die andere auf Flohmärkten oder Onlineplattformen wie Ebay loswerden wollen. "Viele Leute interessiert der Korken nicht, weil er nicht als hohe Kunst gilt. Mich beeindruckt er auf technischer Ebene."

Die kleinen Dinge

"Die Welt besteht aus kleinen Dingen", sagt die Produktdesignerin. Es ist ein typischer Sempé-Satz. Sie sei nicht imstande, revolutionäre Objekte zu entwerfen, fährt sie fort, um mit süffisantem Unterton hinterherzuschieben: "Ich bin ja nicht Jonathan Ive!" Mit der Welt des ehemaligen Apple-Designers hat Sempé wenig gemein. Sie hasst modische Trends, große Visionen, gestylte Wohnwelten, leeres Inspirations-Blabla. Und säuselt wie zum Beweis: "Ich bin inspiriert von Musik, von Sinnlichkeit, von meinem Dasein als Mutter, lächerlich!" In einem ähnlichen Tonfall spricht die Pariserin über minimalistisches Design. Da gebe es kein Risiko, außerdem werde Minimalismus zu oft mit Vorstellungen von Reinheit moralisch aufgeladen. Dass Medien ihre Arbeit auf Biegen und Brechen als glamourös verkaufen wollen? Nun, sie könne das nicht oft genug wiederholen, Design sei alles andere als das.

"Sofas sind die größte Herausforderung"

Wenn es nach Sempé geht, sind Sofa-Entwürfe das beste Beispiel dafür. Der Prozess vom ersten Prototyp zum Endprodukt sei langwierig und schmerzvoll, Sempé presst die Zähne aufeinander, als ob sie ihrer Aussage Nachdruck verleihen wolle. Am liebsten würde sie häufig gleich am Anfang aufhören. Unelegant sei die Arbeit, in die Prototypen müsse oft hineingeschnitten werden.

Der Entwurf von Lampen geht Sempé leichter von der Hand. "Man findet schneller heraus, was nicht passt." Was vielen nicht bewusst sei: "Industriedesign ist eine auf dem Boden gebliebene, technische Disziplin, es geht um ökonomische Fragen, um wettbewerbsfähige Produkte." Das größte Kompliment, das man Inga Sempé machen kann? Da muss sie nicht lange überlegen. "Dass ich eine echte Industriedesignerin bin."

Zum Niederlegen: Sempés Sofaklassiker für Ligne Roset.
Foto: Studio Sempix, Hay, Iittala, Hay, Studio Sempé, Inga Sempé

Dass sie Designerin werden wolle, wurde Inga Sempé "erst mit 18 oder 20" klar. Dabei hat sie schon als Kind gern mit den Händen gewerkelt, zum Beispiel mit Holz und Nägeln einen Webrahmen gebaut. Dass das Entwerfen auch ein Job sein könnte, ahnte sie nicht. Dabei war in Sempés Kindheit bereits vieles anders als bei ihren Mitschülerinnen und Mitschülern. Schon als Kind lernte sie, dass mit Malen und Zeichnen auch von zu Hause aus Geld verdient werden kann. Ihre Mutter ist die dänische Illustratorin Mette Yvers, ihr Vater war der im vergangenen Jahr verstorbene Zeichner Jean-Jacques Sempé und Erfinder des "kleinen Nick". Über den prominenten Vater redet Sempé ungern, dann lieber über beide Elternteile: "Sie haben mich gelehrt, frei zu sein, sich nicht mit anderen zu vergleichen."

Inga Sempé besuchte schließlich die renommierte ENSCI, die École Nationale Supérieure de Création Industrielle, 2001 gründete sie ihr Atelier. Ihre illustren Kooperationspartner sucht sie mal nach Sympathie aus, meist aber entscheide sie sich für Unternehmen, die ihr anböten, mit ihr an unbekannten Materialien zu arbeiten. Mit dem britischen Hersteller Crane hat die Designerin eine Pfanne entworfen und mit dem türkischen Unternehmen Nude Gläser.

Die Lampe w153 für die schwedische Firma Wästberg erinnert an einen beweglichen Regenschirm.
Foto: Studio Sempix, Hay, Iittala, Hay, Studio Sempé, Inga Sempé

Es gebe trotzdem noch Dinge, die sie reizten, erklärt Sempé. Gartenwerkzeuge würde sie gern entwerfen, "aber ich werde ja nie gefragt". Andererseits, wenn so ein Unternehmen auf sie zukäme, wolle es sicher ein Werkzeug für Frauen, wetten? Die Designerin rollt mit den Augen, "das interessiert mich wirklich nicht". Als französisch will sie ihr Design nicht bezeichnen, schließlich sei das untrennbar mit der Welt des Luxus verbunden. Italien fühlt sich Sempé nahe, auch weil es dort mehr Familienunternehmen gibt. Ein Jahr lang hat sie in Rom gelebt, spricht Italienisch. "Aber woanders leben?", seufzt Sempé. "Ich bin durch und durch Pariserin, was soll ich tun?" (RONDO, Anne Feldkamp, 9.3.2023)