Wieder öffnet Oberstleutnant Roman Tkatsch die Fensterscheibe des Pkws und nennt einem müde aussehenden Soldaten die täglich wechselnde Parole, die an den militärischen Checkpoints mit Straßensperren, Betonblöcken und Tarnnetzen ein schnelles Weiterfahren ermöglicht. Es ist der sechste Checkpoint auf der zweistündigen Fahrt von der regionalen Hauptstadt Sumy bis an die ukrainisch-russische Grenze im Nordosten des Landes. Eine Grenze, die mehr als 400 Kilometer lang ist und, seit die russischen Truppen auf ihr Territorium zurückgedrängt wurden, mehr einer Frontlinie gleicht.

Bild der Zerstörung

Eine zu dieser Jahreszeit karge Landschaft zieht am Fenster vorbei: Felder, auf denen das Getreide vom Vorjahr zu sehen ist, das nicht geerntet werden konnte. Zugefrorene Seen, an denen vereinzelt Männer mit ihren Angelruten sitzen und eisangeln. Durch den Straßenasphalt ziehen sich Risse und Löcher.

Dmytro Tarapon, 45 // Soldaten des Grenzschutzes (State Border Guard Service of Ukraine) halten die Stellung an einem Grenzposten ca. einen Kilometer von der russischen Grenze, nahe des Dorfes Welyka Pyssariwka im Oblast Sumy, im Nordosten der Ukraine.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

"Das hier war einmal der schnellste Weg von der Ukraine nach Moskau", erzählt Tkatsch und deutet auf eine Eisenbahnschiene. "Auch die Lkws aus der Republik Moldau nahmen diese Strecke." Der russische Einmarsch im Februar 2022 hat auch in dieser Gegend ein vielerorts beinahe schon übliches Bild der Zerstörung hinterlassen: zerbombte Dörfer, ausgebrannte Tankstellen und Autos, verlassene Häuser, die Überreste eines Vergnügungsparks – Erinnerungen an ein einst friedliches Leben.

Hunderte Angriffe allein im März

"Viele Bewohner haben die Gegend verlassen", erzählt Tkatsch, das Maschinengewehr hält er griffbereit am Lauf in seiner Hand. Dann schlägt sein Handy Alarm: Luftalarm in Sumy. "Die Angriffe auf die Region haben sich in den vergangenen Wochen intensiviert", sagt er, tippt auf den Bildschirm seines Smartphones, um die Warn-App zu schließen, und holt sich die neuesten Updates zur Lage über Telegram: Ein russischer MiG-31-Kampfjet hat den Alarm ausgelöst.

Die Stadt Tschassiw Jar im Osten der Ukraine liegt unweit von Bachmut. Von hier aus starten einige Soldaten in Richtung der Front.
DER STANDARD

Seit die russischen Soldaten im April zurückgedrängt worden sind, greift Russland die Region beinahe täglich aus der Luft an: mit Raketen, Artillerie und Drohnen, mehrere Hundert Mal allein im März. "Die Russen versuchen uns hier zu halten und zu beschäftigen, damit wir nicht an anderen Punkten eingesetzt werden können", sagt Tkatsch. Wie viele Soldaten bisher an der ukrainisch-russischen Grenze in Sumy gefallen sind, lässt er unbeantwortet.

Ruckelige Fahrt

In einer Ortschaft auf halber Strecke zwischen den Städten Sumy und Charkiw, wenige Kilometer von der ukrainischen Stellung entfernt, hält das Auto an. "Hier müssen wir umsteigen", sagt Tkatsch und zeigt auf den gepanzerten Personentransporter, der an einer Tankstelle wartet. Er schüttelt die Hand der beiden Soldaten des staatlichen Grenzschutzdienstes, der in Kriegszeiten dem Kommando der Streitkräfte der Ukraine untersteht. Er zieht seine schusssichere Weste und Helm an und hievt sich auf die Ladefläche des kugelsicheren Militärfahrzeugs. Die ruckelige Fahrt durch verlassene Dörfer bis an die ukrainische Stellung dauert knapp 15 Minuten.

Was in den Dörfern nahe der russischen Grenze in den ersten Wochen des russischen Angriffskrieges passiert ist, hat Produzent und Schauspieler Wolodymyr Nyankin in einem Film festgehalten. Der 38-Jährige sitzt im Umkleidebereich eines Theaters in der ehemals 260.000-Einwohner-Stadt Sumy und arbeitet an seinem Laptop.

Der Journalist und Filmemacher Volodomyr zeigt Drehorte und Teile des Dokumentarfilmes, den er über die Verteidigung der Stadt Sumy in den ersten Tagen des Krieges gedreht hat.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Schlag in die Magengrube

Damit das, was hier passiert ist, nicht vergessen wird, sagt er. Sumy. The gut punch heißt der Film auf Englisch, der auf Youtube zu sehen ist. Ein Schlag in die Magengrube. Nyankin hat für den Film mit rund hundert Menschen gesprochen – viele von ihnen haben die Ereignisse mit ihren eigenen Smartphones gefilmt und dokumentiert.

"Für die meisten in der Ukraine ist die Region Sumy kein interessanter Ort, eher langweilig. Vor dem Krieg kam es sogar vor, dass viele den Namen Sumy falsch geschrieben haben, also mit zwei m", erklärt er. "Heute ist Sumy eine Region wie eine Art Blinddarm, die an Russland grenzt, wohin man mittlerweile nicht mehr fahren kann." Aber Sumy ist auch ein symbolischer Ort geworden, an dem sich ganz normale Menschen gegen die russischen Besatzer gewehrt haben.

"Die echten Helden"

Nyankin spielt den Film ab, der mit Alltagsszenen aus den Leben der Menschen vor dem 24. Februar 2022 beginnt. Die echten Helden, die Sumy verteidigt haben, wie er sagt. Und das, obwohl gerade hier kaum einer auf die Invasion vorbereitet war. Die territorialen Verteidigungskräfte verfügten über einige wenige tragbare Panzerabwehrwaffen und Molotowcocktails. Mehr als 5000 Maschinengewehre wurden in den ersten Tagen des russischen Angriffskrieges in der Stadt verteilt. Am 27. Februar war die ganze Stadt von schützenden Betonblöcken umgeben, die Zugänge versperrt. Wochenlang gelang es den Selbstverteidigungsgruppen, die Russen zurückzuhalten und so die Nachschublinien von der russischen Grenze nach Kiew zu unterbrechen.

Wiederholt hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die territorialen Verteidigungskräfte von Sumy gelobt. In seiner Silvesteransprache sagte er: "Die Stadt Sumy und ihre Region. Sie waren unter den Ersten, die die Invasion der Eindringlinge in vollem Umfang zu spüren bekamen. Die Region Sumy wurde für sie zu einem Dorn im Auge. Gewöhnliche Menschen haben Molotowcocktails hergestellt, feindliche Kolonnen verbrannt und die ersten Gefangenen gemacht." Dennoch sind bis heute allein in der Stadt Sumy 30 Zivilisten aufgrund des Krieges gestorben. Mehr als 200 Gebäude teilweise oder ganz zerstört.

Blumen erinnern an ukrainische Soldaten, die im hektischen Gefecht durch eigene Kameraden getroffen wurden.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Im Schützengraben

In den vergangenen Monaten sind viele, die aufgrund der Kämpfe geflohen sind, nach Sumy zurückgekehrt. Auch weil die Grenze zu Russland mittlerweile mit Schützengräben verstärkt wurde. "Das war im Gebiet Charkiw", erklärt Artem Wolinko, 25, Oberleutnant des staatlichen Grenzschutzes, als in weiter Ferne die Artillerie donnert und die Rufe des Greifvogels weit oben in den Baumkronen der Kiefern unterbricht.

Wolinko steht im Schützengraben, der etwa 50 Zentimeter breit ist und ihm bis zur Brust reicht. Auf dem Boden liegen dutzende leere Plastikflaschen, die laut knacken, wenn man auf sie tritt. "Das ist eine Art Alarmanlage gegen den Feind", sagt er und erklärt, wie nahe sich die Stellungen der Russen befinden: eineinhalb Kilometer auf der anderen Seite des Kiefernwaldes, der zum Schutz vor einer erneuten Invasion vermint wurde.

Vor dem Angriffskrieg, als es hier noch keine Schützengräben gab, war Wolinko ein gewöhnlicher Beamter des Grenzschutzes. "Am 23. Februar haben wir uns wie auf einen normalen Arbeitstag vorbereitet", erzählt er. "Um 4.30 Uhr begann Russland mit dem Beschuss. Ich musste meine Leute in Sicherheit bringen." Er bahnt sich den Weg durch den Schützengraben und zeigt, wo die Soldaten übernachten – in einen aus Kiefernholz gebauten Unterstand mit zwei Stockbetten, in dem ein kleiner Ofen für Wärme sorgt. "Fast wie in einem Hostel", scherzt er und zeigt auf den Rauchmelder. Alle drei bis vier Tage rotieren die Soldaten, nicht zu oft, damit die Russen nicht auf die Stellung aufmerksam werden.

Durchhalten

"Natürlich sind wir alle müde, aber unsere Kameraden im Osten sind noch viel müder", sagt Wolinko. "Wir hier müssen unsere Pflicht erfüllen. Denn auch das hier ist eine Art Frontlinie. Unsere Aufgabe hier ist, die Grenze zu sichern, die Drohnen abzufangen und russische Provokationen zu verhindern."

Wann er wieder in sein normales Leben zurückkehren oder seine Partnerin sehen kann, die sich ebenfalls der Armee angeschlossen hat, ist ungewiss. Es könnte auch sein, dass Männer wie er irgendwann in den Osten, in den Donbass geschickt werden, wo ein brutaler Stellungskrieg tobt, der täglich hunderte Menschenleben fordert. "Alles ist möglich", sagt er mit flacher Stimme.

Die Grenzschutzsoldaten sind müde, aber ihre Kameraden im hart umkämpften Osten des Landes seien noch viel müder, deshalb gebe es nur eine Devise: durchhalten!
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Dass manche Europäer eineinhalbtausend Kilometer westlich von hier, in Städten wie Berlin, derzeit lautstark nach Friedensabkommen und Verhandlungen rufen, ringt den Soldaten in der Stellung lediglich ein Lächeln ab. "Erst vor wenigen Tagen warfen die Russen dreihundert Meter von hier mit Drohnen Granaten ab", so Wolinko. Vor einigen Wochen wurde eine Bande russischer Saboteure gefasst, als sie versuchten, die Grenze zu unbekannten Zwecken zu überqueren. Sie flohen unter Beschuss. "Erst wenn wir unsere Grenzen aus dem Jahr 1991 wiederhergestellt haben, können wir verhandeln. Bis dahin brauchen wir mehr Luftabwehrsysteme für das gesamte Land." Bis dahin gilt für die meisten hier: durchhalten.

Fehlersuche nach dem Krieg

Natürlich, erklärt Filmemacher Wolodymyr Nyankin, gab es in Sumy auch die anderen. Jene, die mit den Russen zusammengearbeitet haben, Saboteure, Kollaborateure. Doch in seinem Film kommen sie nicht vor. "In jedem Land gibt es gute und schlechte Menschen. Nur: Jetzt gerade ist nicht die Zeit, um alle Details über den Beginn des Krieges zu zeigen. Es wurden Fehler gemacht. Aber was hilft es mir, mich mit diesen Fehlern zu beschäftigen, während der Krieg noch immer andauert und wir täglich angegriffen werden?"

Etwa 80 Prozent der Menschen in Sumy haben Verwandte und Verbindungen zu Russland, sagt Nyankin. Er auch. Sein Vater, seine Oma, sein Onkel – sie alle leben in Russland. Er selbst hat in Moskau studiert. "Moskau war einmal das Zentrum in Osteuropa, wenn man Talent hatte und Geld verdienen wollte."

Von weitem hört man die Explosionen aus Kharkiv, aber auch in Sumy häufte sich in der letzten Woche der Beschuss.

Verwandtschaft, die über Grenzen geht

Damals, bevor Russland die Krim im Jahr 2014 völkerrechtswidrig annektiert hatte, gab es in der Region Sumy 24 Grenzübergänge. Der Krieg im Donbass und später die Corona-Pandemie sorgten dafür, dass die meisten Kontrollpunkte nach und nach geschlossen wurden. Das letzte Mal war Nyankin 2018 in Russland. "Es war mir wichtig, dass meine Großmutter meinen Sohn kennenlernt", sagt er. An der Grenze wurde er zwei Stunden lang vom russischen Sicherheitsdienst befragt. Man wollte ihn dazu bringen, zu sagen, dass es unter Wiktor Janukowitsch, dem durch die Maidan-Proteste vertriebenen Ex-Präsidenten, gar nicht so schlimm gewesen sei.

Seit dem Krieg hat er mit seinen Verwandten in Russland kaum noch Kontakt, er holt sein Smartphone und liest die Nachricht vor, die ihm sein Vater am 27. Februar aus Moskau schickte: "Sohn, ich kann an nichts anderes denken. In den Nachrichten im TV und im Internet zeigen sie schreckliche Bilder aus Charkiw. Ich war unter Schock, deshalb habe ich dir nicht sofort geschrieben oder angerufen. Wie geht es dir? Ich mache mir Sorgen um dich. Ich hoffe, dass alles bald vorbei ist." Nyankins Antwort: "Hallo Papa, schau nicht fern. Ruf mich an, wann du willst."

Sein Vater, sagt Nyankin, sei der "neutrale Typ", der über den Krieg deshalb schockiert ist, weil sein Sohn davon betroffen ist. Nicht weil Russland in ein Land einmarschiert ist und seither zehntausende Kriegsverbrechen begangen hat. "Er denkt, dass es gut ist, mein Leben zu retten. Er denkt nicht an den Rest der Gesellschaft." Wahrscheinlich werde er seine Verwandten nie wieder sehen, glaubt Nyankin. "Die einzige Chance wäre, sie in einem neutralen Land zu treffen. Aber ich glaube, dass sie Russland niemals verlassen werden."

Evhen Boychuk, 40, beobachtet die russische Grenze aus einem Schützengraben.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Keine neue Nordoffensive

Wie lange der Krieg dauern wird, getraut sich hier an der Grenze zu Russland niemand vorauszusagen. Serhii Bereshnyj hält ein Anti-Drohnen-Gewehr in der Hand. "Made in Ukraine", sagt der 25-Jährige. Wenn die Russen Drohnen schicken, fangen sie die Signale mit ihrer Waffe so lange ab, "bis die Drohne keinen Akku mehr hat und einfach vom Himmel fällt".

Bereshnyj glaubt nicht, dass die Russen eine erneute Invasion von Norden starten werden. "Die ukrainischen Streitkräfte sind gut vorbereitet, und was wir auf der anderen Seite der Grenze beobachten, ist, dass es keine bedeutende Anzahl an militärischen Fahrzeugen und Panzern gibt. Es wirkt eher so, als ob die Russen selbst in die Defensive gehen und Schützengräben anlegen."

"Ich glaube, dass alles gut wird. Wir müssen nur diesen Krieg zu Ende bringen." Serhii Bereshnyj

So wie Artem Wolinko stammt auch Bereshnyj aus der Gegend. Wenn die beiden miteinander sprechen und scherzen, wirken sie jünger. Wie zwei Burschen aus dem Ort, von denen keiner zugeben will, dass die Zigarettenstummel neben den Schützengräben von ihnen stammen.

Bereshnyj sagt, dass er sich einfach nur die Zeit zurückwünscht, als Schmuggler das größte Problem in der Grenzregion Sumy waren. Er vermisst es, nach der Arbeit nach Hause zu seiner Familie zu kommen, die selbst nach Polen geflüchtet ist. Das Wichtigste, sagt er, ist die Einstellung. "Ich glaube, dass alles gut wird. Wir müssen nur diesen Krieg zu Ende bringen." (Daniela Prugger aus Sumy, 12.3.2023)