Welcher Weg ist der richtige? Stehen wir vor einer Weggabelung, mag es uns als freie Entscheidung erscheinen, welche Richtung wir einschlagen. Möglicherweise regiert aber der Determinismus.
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Es gibt wenige Bereiche, in denen unsere Alltagserfahrung und die Erkenntnisse der Wissenschaft so weit auseinanderklaffen wie bei der Vorstellung vom freien Willen. Täglich gilt es unzählige Entscheidungen zu treffen – beginnend beim Frühstück und der passenden Garderobe. Oder weitreichende Fragen zu beantworten wie jene, welchen beruflichen Weg man einschlagen möchte, wen man sich zum Partner wählt oder wie man sein Leben leben will. Manche Entscheidungen sind so hart, dass sie uns bis in den Schlaf verfolgen. Angesichts dessen scheint es wie blanker Hohn, dass die Wissenschaft zum Schluss kommt: Den freien Willen gibt es nicht.

Innerhalb der Naturwissenschaft fühlen sich vor allem die Gehirnforschung und die Physik berufen, sich mit der Idee des freien Willens zu beschäftigen. In der Gehirnforschung steht die Frage im Zentrum, wie Entscheidungen getroffen werden. In der Physik geht es um die Entwicklung des Universums in seiner Gesamtheit und inwiefern diese deterministisch abläuft. Im kleinen Grenzgebiet zwischen Neurologie und Physik gehen Forschende zudem der Frage nach, welche Quanteneffekte bei der Entstehung von Bewusstsein eine Rolle spielen. Doch wie man es dreht und wendet, all diese Forschungsfelder scheinen zum selben Ergebnis zu kommen: Den freien Willen gibt es nicht.

Die Gesetze der Physik gehorchen weitgehend dem Determinismus – mit einer kleinen Ausnahme.
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Vorbestimmte Zukunft

Doch wie ist es zu verstehen, dass es den freien Willen nicht geben soll, und welche Auswirkungen hat das auf unser Leben?

Zunächst einmal sollte gesagt sein: Wir leben in einem wunderschönen Universum, doch der freie Wille hat darin keinen leichten Stand. Der Grund dafür heißt Determinismus: Eine Vielzahl an Naturgesetzen ermöglicht es uns, das Universum im Großen wie im Kleinen äußerst präzise zu beschreiben und treffsichere Vorhersagen zu treffen. Wenn man sich die Beschaffenheit der Naturgesetze ansieht, zeigt sich, dass sie allesamt deterministisch sind. Die einzige Ausnahme stellt dabei die Quantenmechanik dar, die vollkommen zufällige Ereignisse in die Physik einführt.

Zunächst bestand noch die Hoffnung, dass eine Weiterentwicklung der Theorie dazu führen könnte, eine deterministische Erklärung für die scheinbar zufälligen Ereignisse zu liefern – etwa, indem weitere, bislang verborgene Parameter eingeführt werden. Inzwischen ist aber klar, dass solche Parameter derart kurios beschaffen sein müssten, dass sie erst keine präzisen Vorhersagen ermöglichen würden. Die Mehrheit der Physikerinnen und Physiker geht daher davon aus, dass die Quantenmechanik mit dem Determinismus bricht und der Zufall in diesem Teilbereich der Physik so zu walten scheint, wie es ihm beliebt.

Das James-Webb-Weltraumteleskop bietet neue Einblicke in die Entwicklungen im frühen Universum. Die Aufnahme zeigt eine Gruppe von fünf Galaxien genannt Stephan's Quintet.
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Bis zurück zum Urknall

Da sich die zufälligen quantenmechanischen Ereignisse aber nur selten in unserer makroskopischen Welt manifestieren, hält sich unser tägliches Leben zum überwiegenden Teil an die deterministischen Naturgesetze. Da auch wir Menschen aus Atomen bestehen, die sich so verhalten, wie es die Naturgesetze vorsehen, bleibt kaum Platz für freie Entscheidungen. Die theoretische Physikerin Sabine Hossenfelder beschreibt unsere Situation in ihrem jüngsten Buch "Existential Physics" folgendermaßen: "Was du heute tust, folgt aus dem Zustand des Universums von gestern, der sich wiederum aus dem Zustand des Universums von vergangenem Mittwoch ergibt und so weiter – bis zurück zum Urknall."

Physikalisch betrachtet baut der freie Wille auf der Vorstellung auf, dass es zu jedem Zeitpunkt verschiedene Möglichkeiten für die Zukunft gibt und dass es unser freier Wille ist, der die Wahl trifft. Diese Vorstellung deckt sich auch damit, wie wir die Welt wahrnehmen. Das Problem ist aber, dass diese Vorstellung nicht mit den Naturgesetzen verträglich ist: "Die Idee vom freien Willen ist nicht kompatibel mit dem, was wir in der Natur sehen", sagt Hossenfelder.

Die Physikerin Sabine Hossenfelder hat sich in einem Video aus dem Jahr 2020 mit dem freien Willen beschäftigt. Video: Sabine Hossenfelder.
Sabine Hossenfelder

Wenn wir davon ausgehen, dass auch wir Menschen nicht über den Naturgesetzen stehen, geht es dem freien Willen an den Kragen: "Das Problem mit dem freien Willen ist, dass gemäß den Naturgesetzen, von denen wir wissen, dass sie uns Menschen auf einer fundamentalen Ebene beschreiben, die Zukunft durch die Gegenwart determiniert ist", sagt Hossenfelder. Daraus ergibt sich: "Die intuitive Idee, dass wir zwischen zukünftigen Möglichkeiten entscheiden können, ist falsch."

Kein Ausweg durch Zufall

Doch was ist mit dem Zufall, der sich aus der Quantenmechanik ergibt? Eröffnet dieser nicht noch ein Schlupfloch für den freien Willen, wenn doch nicht alles bis ins Letzte determiniert ist? "Sorry, aber nein. Das macht leider keinen Sinn", sagt Hossenfelder. Die zufälligen Ereignisse in der Quantenmechanik werden nicht von menschlichen Entscheidungen beeinflusst, weil sie eben von gar nichts beeinflusst werden. "Genau das ist der springende Punkt, warum wir sie fundamental zufällig nennen: Nichts beeinflusst ihren Ausgang."

Die Neuronen dienen der Zellkommunikation im Gehirn.
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Auch für den deutschen Gehirnforscher Wolf Singer eröffnen mögliche Quanteneffekte im Gehirn noch längst nicht die Möglichkeit für freien Willen: "Denn wenn das, was wir tun, von Zufälligkeiten abhängig ist – dann sind wir dem Zufall ausgeliefert und wieder nicht frei." In der Neurowissenschaft ist der freie Wille ebenfalls ein heißdiskutiertes Thema. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie Entscheidungen im Gehirn getroffen werden, was dabei bewusst abläuft und was unbewusst.

Neue technische Möglichkeiten erlauben die Erforschung von Gehirnleistungen in noch nie dagewesener Genauigkeit. Doch auch dabei verfestigt sich immer mehr die Meinung, dass der freie Wille vermutlich bloß eine Illusion ist.

Bereits vor Jahren hat Singer darauf hingewiesen, dass die Vorstellungen von freien Entscheidungen nicht mit den Erkenntnissen der Gehirnforschung in Einklang zu bringen sind: "Wir begreifen immer mehr, dass das Gehirn ein sich selbst organisierendes komplexes System ist. Eine hochgradig nichtlineare Dynamik bereitet all unsere mentalen Prozesse vor – einschließlich der Inhalte, die uns gar nicht ins Bewusstsein kommen."

Auch wenn es tatsächlichen Zufall gibt, der dem Determinismus ein Schnippchen schlägt, ist das noch längst kein Beweis für die Existenz von freiem Willen.
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Gewöhnungsbedürftige Einsicht

Daraus ergibt sich auch, dass wir nicht davon ausgehen können, "dass es irgendwo im Gehirn eine federführende Instanz gibt, die für uns die Zukunft plant oder Entscheidungen fällt, vielmehr organisieren sich diese Prozesse im Gehirn selbst", sagt Singer. Dass sich daraus letztlich koordiniertes Verhalten ergibt, ist erstaunlich. "Das scheint der Weisheit letzter Schluss zu sein – das ist etwas, woran man sich erst einmal gewöhnen muss."

Die Einsicht, dass wir keinen freien Willen besitzen, ist nicht nur individuell bedeutsam, sondern wirft auch gesellschaftliche Fragen auf. Etwa muss überdacht werden, ob Menschen für bestimmte Verhaltensweisen bestraft werden dürfen. Singer ist dazu seit langem im Austausch mit Rechtsgelehrten. Bereits vor Jahren berichtete er: "Wir sind uns einig, dass wir vom moralischen Schuldbegriff im Bereich der Rechtsprechung absehen sollten." Eingang in die juristische Praxis haben diese Erkenntnisse allerdings noch nicht gefunden.

Trügerische Illusion

Wenn die Wissenschaft so eindeutig zeigt, dass wir keinen freien Willen besitzen, wie kommt es dann, dass wir unser gesellschaftliches Leben so organisieren, als gäbe es Wahlfreiheit? Und wie kommt es überhaupt, dass wir intuitiv davon ausgehen, dass wir uns frei entscheiden können? Für Hossenfelder liegt die Sache auf der Hand: Wenn wir vor Entscheidungen stehen, laufen in unserem Gehirn Prozesse ab, die den deterministischen Naturgesetzen gehorchen. "Es gibt keinen magischen Saft in unserem Neocortex, der uns über die Naturgesetze hebt." Alles, was wir tun, ist also zu evaluieren – welche Entscheidung die beste ist, basierend auf den limitierten Informationen, die wir besitzen. Dass wir den Eindruck haben, dass der Ausgang dieser Evaluation völlig offen ist, liegt daran, "dass wir den Ausgang unseres Denkprozesses nicht kennen, bevor er abgeschlossen ist. Andernfalls müssten wir gar nicht erst nachdenken."

Dass wir keinen freien Willen haben, ist keine Unzulänglichkeit von uns Menschen, sondern liegt einfach in der Natur des Universums, in dem wir leben. Interessant an der Debatte zu freiem Willen und Determinismus ist auch, dass unsere Methoden zum Erkenntnisgewinn darin an ihre eigenen Grenzen getrieben werden.

Übernatürliche Wesen

Die Wissenschaft ist seit jeher bemüht, Aberglauben und Gespenster auszutreiben. Dennoch gab es immer wieder neuralgische Momente, in denen Wissenschafter oder Wissenschafterinnen übernatürliche Wesen erschufen, wie in der 2020 publizierten wissenschaftshistorischen Aufarbeitung "Bedeviled: A Shadow History of Demons in Science" der mexikanisch-amerikanischen Forscherin Jimena Canales deutlich wird.

Übernatürliche Wesen wie Geister oder Dämonen werden von Wissenschaftern oft dann eingeführt, wenn sie nicht mehr weiterwissen.
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Ein prominentes Beispiel dafür ist der Laplace'sche Dämon. Erschaffen vom französischen Mathematiker Pierre-Simon Laplace im Jahr 1814, sollte dieses Wesen dank Kenntnis sämtlicher Naturgesetze und Startbedingungen in der Lage sein, jeden vergangenen und zukünftigen Zustand aller Teilchen im Universum zu berechnen.

Einen ebenbürtigen Gegenspieler fand der Laplace'sche Dämon in einem weiteren Geisterwesen, dem Maxwell'schen Dämon: ein übernatürliches Wesen, das die Molekülbewegungen sehen kann und so mittels einer Wärmekraftmaschine Energie aus dem Nichts erzeugen könnte.

Kampf der Dämonen

Während der Laplace'sche Dämon die ultimative Berechenbarkeit des Universums in den Blick nahm, lenkte der Maxwell'sche Dämon die Aufmerksamkeit auf den inhärent statistischen Charakter des Mikrokosmos. In gewisser Weise scheint ihnen beiden ein Funken Wahrheit innezuwohnen, weswegen sie im Laufe der Geschichte immer wieder abwechselnd die Oberhand gewannen. In diesem Kampf der Dämonen entscheidet sich schließlich auch unsere Freiheit. (Tanja Traxler, 12.4.2023)