Franziska Schutzbach, hier in dem Film "Feminism WTF", der aktuell in den österreichischen Kinos läuft.

Foto: Filmstill "Feminism WTF"

Franziska Schutzbach hat zuletzt mit ihrer Analyse der ständigen Überlastung von Frauen einen Nerv getroffen und war damit über Monate auf den Schweizer Bestsellerlisten. Es ist kein individuelles Versagen der Einzelnen, sondern gezielte Ausbeutung durch jegliche unentgeltliche und emotionale Arbeit, die vorwiegend Frauen leisten, ist eine ihrer Thesen in ihrem Buch "Die Erschöpfung der Frauen" (Droemer Knaur, 2021)

Die Schweizer Autorin war aus Anlass der Premiere des Films "Feminism WTF", in dem sie neben anderen Expert:innen zu Feminismus und Geschlechtergerechtigkeit zu Wort kommt, in Wien. Im Interview sprach Schutzbach unter anderem darüber, wie erfolgreich in der Debatte um Transgenderrechte eine Ablehnung demokratischen Grundprämissen wie Minderheitenschutz und Antidiskriminierung forciert werde.

STANDARD: Ihr Buch "Die Erschöpfung der Frauen" wurde zum Besteller. Fragen Sie Frauen oft nach konkreten Möglichkeiten, was sie selbst gegen ihre Überlastung tun könnten?

Schutzbach: Der Impuls, nach den individuellen Möglichkeiten zu fragen, ist immer sehr stark. Wie soll man mit der Erschöpfung klarkommen? Wie können wir Arbeit, Familie, Familienarbeit gerechter aufteilen? Es ist klar, dass man erst mal versucht, auf der individuellen Ebene Lösungen zu finden – und dagegen spricht auch nichts. Es gibt auch gute Angebote, Coachings und therapeutische Möglichkeiten, etwa um gegen Burnout was zu tun. Aber es ist auch der Zeitgeist, die Ebene des Individuellen absolut zu setzen. Die Menschen sind stark entpolitisiert, und die Botschaft "Du bist deines Glückes Schmied" ist sehr präsent. Der Glaube, wenn ich das nicht hinkriege, bin ich als Individuum schuld und gescheitert.

STANDARD: Warum? Viele wissen doch um die Hürden, die sie allein nicht überwinden können.

Schutzbach: Das ist ein Effekt unserer fortschritts- und profitorientierten Marktwirtschaft. Sie will die Leute auf Trab halten und dass wir nie das System infrage stellen, denn das würde bedeuten, eine politische Perspektive zu haben. Es würde bedeuten, Forderungen zu stellen. Und genau das hilft auch gegen die vermeintlich individuelle Erschöpfung: eine politische Perspektive. Denn diese ermöglicht es, sich nicht die ganze Zeit schuldig und fehlerhaft zu fühlen.

STANDARD: Aber ist es nicht verständlich, dass man sich nicht als Opfer eines Systems wahrnehmen will?

Schutzbach: Ja, absolut. Gerade in dieser Gesellschaft, in der auf Subjekten ein enormer Erfolgsdruck lastet und auch die digitalisierte Welt ständig von uns abverlangt, unser Leben als permanente Erfolgsgeschichte zu erzählen – während wir gleichzeitig ständig an Grenzen stoßen. Das ist die Paradoxie, die Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in ihrem sehr lesenswerten Buch "Gekränkte Freiheit" beschreiben: Die kapitalistische Gesellschaft suggeriert den Menschen "ihr könnt alles, ihr seid frei, wenn ihr wollt und es in die Hand nehmt". Die reale Erfahrung der Menschen ist aber, dass sie einen Großteil der Dinge, die sie sich erträumen und wünschen, nicht umsetzen können, weil es unsichtbare Grenzen gibt. Grenzen durch die soziale Herkunft oder wegen eines Migrationshintergrundes, Geschlechtergrenzen. Es gibt so viele Dinge, die Menschen daran hindern, diese vermeintlichen Freiheiten umzusetzen.

Und dann passiert eine Kränkung. In dieser Kränkung werden Menschen anfällig für Ressentiments und Feindbilder: Jemand ist schuld, die Ausländer oder die bösen Feministinnen.

STANDARD: Aber ist nicht das Gegenteil der Fall? Es wird doch derzeit viel über einen sehr starken "Empfindlichkeitsdiskurs" gesprochen – Stichwort "Wokeness".

Schutzbach: Tatsächlich sind es Minderheiten, die dieses Bewusstsein oder meinetwegen "Wokeness" gegenüber Ungerechtigkeit und Diskriminierung formulieren, und der Hass, der ihnen entgegenschlägt, ist groß. Denn wegen der vorherrschenden Ideologie der individuellen Stärke und Machbarkeit werden jene, die sich herausnehmen, Benachteiligung zu benennen, abgelehnt.

Gerechtigkeitsanliegen werden oft als Opfergetue verhöhnt, auf diese Weise muss man sich nicht damit befassen. Aber es gibt keine Veränderung in der Gesellschaft, wenn Menschen strukturelle Benachteiligung nicht erkennen und benennen.

Erfahrungen von Diskriminierung auszusprechen ist durchaus ermächtigend. Auch historisch war die Benennung von Benachteiligung immer eine zentrale Ausgangslage, um dann in die Stärke zu kommen, Forderungen zu stellen und Veränderungen zu bewirken.

STANDARD: Heute sprechen viel mehr Menschen über Diskriminierung. Mit Erfolg?

Schutzbach: Natürlich gehen diese Veränderungen nicht ohne Konflikte, denn Gerechtigkeit bedeutet auch, dass Privilegien abgebaut werden. Wenn etwa Frauen of Color einen Platz am Tisch einfordern, dann können weniger weiße Männer an diesem Tisch sitzen. Es gibt Gerechtigkeit nicht zum Nulltarif. Bisher Bevorteilte müssen tatsächlich etwas abgeben. Das tut weh und führt zu Gegenreaktionen. Wenn in den deutschsprachigen Feuilletons nicht mehr – wie jetzt – vorwiegend Männer schreiben, verlieren sie die Deutungshoheit darüber, was gesellschaftlich relevant ist.

Und es geht natürlich nicht nur um kulturelle Deutungsmacht, sondern auch um Geld. Wenn wir etwa die Forderungen nach einer Aufwertung der Sorgearbeit ernst nehmen, müssten Profite umverteilt werden – doch genau das soll abgewehrt werden.

STANDARD: Wie genau wird die Umverteilung von Geld und kulturellem Kapital abgewehrt?

Schutzbach: Man macht sich einerseits über "Opfergetue", über Wokeness lustig, andererseits unterstellt man, dass die sogenannten "Schwachen" und "Empfindsamen" eigentlich stark und gefährlich sind, dass sie die Herrschaft anstreben, etwa eine "Genderdiktatur" einrichten wollen. Das sind klassische rhetorische Mittel von Backlash-Bewegungen.

STANDARD: Inwiefern?

Schutzbach: Wenn die Schwachen und Diskriminierten als heimlich Mächtige dargestellt werden, die angeblich die Herrschaft wollen, darf man sie auch zurückdrängen, ihre Forderungen zerschlagen. Die Bekämpfung von Gerechtigkeitsanliegen wird auf diese Weise als Notwehr stilisiert, und wenn es Notwehr ist, ist jedes Mittel erlaubt, auch Diffamierung und Hass – Menschenfeindlichkeit und Privilegiensicherung werden rhetorisch sehr oft als Akt der Notwehr verpackt. Das Resultat dieser Rhetorik ist, dass sich bis weit in die Mitte der Gesellschaft eine schleichende Aversion gegenüber demokratischen Grundprämissen wie Minderheitenschutz, Antidiskriminierung und Gleichstellung verbreitet. Am Ende geraten demokratische Basics als radikal, als "Tyrannei", als Minderheitenterror in Verruf und werden zunehmend abgelehnt. Diese schleichende Infragestellung demokratischer Übereinkünfte ist leider ein großer Erfolg rechtspopulistischer Parteien weltweit.

STANDARD: Wo beobachten Sie derzeit eine solche Rhetorik?

Schutzbach: Wir können diese Dynamik derzeit stark bei Anti-Trans-Bewegungen beobachten: Menschen, die um demokratische Selbstverständlichkeiten wie Selbstbestimmung und Anerkennung kämpfen, werden als heimlich Mächtige dargestellt, als "Genderlobby", die uns angeblich alles wegnehmen, eine Tyrannei des Geschlechterchaos errichten will. Die Unterstellung, dass Transmenschen bald an der Macht seien, ist natürlich Unsinn. Sie gehören zu den vulnerabelsten Gruppen, sie haben eine sehr hohe Suizidrate, sind in hohem Mass von Arbeitslosigkeit betroffen, haben eine hohe psychische Belastung. Das ist mitnichten eine Gruppe, die kurz davorsteht, die Macht zu übernehmen.

Diese verzerrenden Diskurse haben aber auch mit der Medienkrise zu tun, damit, dass Zeitungen enorm klickorientiert arbeiten. Und Erregungsgeschichten, in denen es darum geht, ob das eine Wort noch gesagt werden dürfe oder nicht, funktionieren sehr gut. Medien haben aber eine demokratiestabilisierende Aufgabe, und wenn sie ihre eigenen Prämissen dauernd brechen, indem sie ständig stark ressentimentgeladene Erzählungen starkmachen, finde ich das höchst bedenklich.

STANDARD: Einerseits sind emanzipatorische Bewegungen derzeit lauter und kommen medial auch viel stärker vor als früher. Andererseits bewegt sich im Sinne dieser Bewegungen kaum etwas – etwa beim Thema Arbeit.

Schutzbach: Ja, das beschäftigt mich persönlich immer wieder. Wie können wir mit diesen Frustrationen umgehen, damit, dass wir in vielen Bereichen längst alternative Modelle entwickelt haben und wissen, was getan werden müsste, damit sich Dinge wirklich ändern?

Ich denke, es ist wichtig, es sich nicht nehmen zu lassen, große Veränderungen anzustreben, etwa eine andere Definition von Arbeit, in der nicht mehr nur Erwerbsarbeit zählt, sondern Carearbeit genauso viel zählt und alle Menschen auch dafür genug Zeit und Geld bekommen. Das wäre das große Ziel, an dem sollten wir auch eine Politik der kleinen Schritte immer wieder messen.

STANDARD: Es gab noch nie so viel feministische Bücher, Expert:innen für Antidiskriminierung, warum müssen wir noch immer über dieselben Probleme sprechen?

Schutzbach: Es gibt eine "rhetorische Modernisierung" bei gleichzeitiger Verhaltensstarre, wie es Ulrich Beck formulierte. Sobald es um Geld geht, um die Umverteilung von Ressourcen, um konkrete gleichstellungspolitische Maßnahmen, um die Schaffung von Antidiskriminierungsstellen etc., wird es schwierig. Das ist die große Frage: Wie schaffen wir es, den tatsächlichen Umverteilungshebel in Gang zu bringen und wegzukommen von der bloßen rhetorischen Aufgeschlossenheit? Dafür braucht es jedenfalls starke soziale Bewegungen. Parlamente haben selten von sich aus einfach beschlossen, etwa: Jetzt führen wir mal die "Ehe für alle" ein. Solche Schritte erfolgen nur aufgrund von massivem Druck von der Straße. Im Nachhinein wird es oft anders erzählt, etwa dass Angela Merkel das Elterngeld in Deutschland eingeführt hat – "was für eine tolle progressive Politik!". Es wird völlig vergessen, wie viele feministische Kämpfe dauerhaft nötig waren, damit solche Schritte von der Politik gemacht werden. (Beate Hausbichler, 18.4.2023)