Medizinisches Fachpersonal nimmt sich für dicke Menschen weniger Zeit als für dünne, zeigen Studien. Krankheiten werden häufig auf das Dicksein geschoben.

Foto: Getty Images/iStockphoto/peakSTOCK

Die Prognose ist eindeutig: Die Welt wird immer dicker. Im Jahr 2030 wird jeder vierte Mann und jede fünfte Frau fettleibig sein, also einen Body-Mass-Index von mindestens 30 haben, zeigen die Zahlen der WHO. Aus medizinischer Sicht hat man dieser Entwicklung wenig entgegenzusetzen.

Der Umgang mit Adipositas ist ein Versagen der Medizin, findet Bianca Itariu. Die Internistin hat lange die Adipositas-Ambulanz am AKH Wien geleitet und fordert einen pragmatischen Umgang mit der Erkrankung. Das Thema sei zu emotional aufgeladen, sagt sie, und viele Menschen verstünden das Krankheitsbild nicht – auch medizinische Fachleute. Betroffene würden abgewertet und als faul abgetan, ein Phänomen, das man bei kaum einer anderen Krankheit beobachte. Bei erhöhtem Blutdruck, einer Gastritis oder einem Magengeschwür komme niemand auf die Idee, zu Betroffenen zu sagen: na ja, selbst schuld. Warum dann bei Adipositas?

STANDARD: Bald werden gut 20 Prozent aller erwachsenen Menschen fettleibig sein, schätzt die WHO. Beunruhigt Sie diese Zahl?

Itariu: Es kommt darauf an, aus welcher Perspektive man das sieht. Nicht jeder Mensch mit Adipositas ist gleichzeitig todkrank und eine Belastung für die Gesellschaft. Mit dem Finger auf andere zu zeigen ist keine Lösung. Das sind 20 Prozent der Mitbürgerinnen und Mitbürger, die selbst Beiträge zahlen, die an der Gesellschaft teilnehmen. Mit allen müssen wir solidarisch sein. Wir können als Gesellschaft nur erfolgreich sein, wenn wir einander helfen. Man muss die Frage also umdrehen: Wie können wir Möglichkeiten schaffen, um diese Zahlen zu entschärfen und die Rahmenbedingungen zu verbessern?

STANDARD: Und wie?

Itariu: Man muss sich erst einmal über die Ursachen für Übergewicht unterhalten, und zwar komplett wertfrei. Das Nahrungsangebot ist aktuell so breit und so kaloriendicht wie noch nie zuvor. Dementsprechend haben viele Länder dasselbe Problem, und mir fällt kein einziges ein, das effektive Präventivmaßnahmen, wie etwa eine Steuer auf Fett und Zucker, umgesetzt hat.

Ich sehe viel Potenzial darin, in der Kindheit anzusetzen. Bildung sollte mehr gefördert werden, damit schon Kinder über gesunde und ungesunde Ernährung lernen. Auch das Essensangebot für Kinder in Betreuungseinrichtungen müsste sich dementsprechend ändern. Ich höre von Eltern mit Schulkindern, dass da viel Luft nach oben ist. Und auch in der Erziehung sollten wir manches kritisch hinterfragen. Kinder sollten nicht alles aufessen müssen. Eine Nachspeise darf keine Belohnung für etwas sein, sondern eben einfach nur eine Nachspeise.

STANDARD: Was hat das mit der Erkrankung Adipositas zu tun?

Itariu: Wir haben alle gelernt, dass Dicksein schlecht ist, und dadurch eine gewisse Dickenfeindlichkeit internalisiert. Das verunmöglicht einen pragmatischen Diskurs. Adipositas wird nicht als Erkrankung wahrgenommen, sondern als Charakterschwäche. Ich habe am Wochenende meine fünfjährige Tochter gefragt, wie sie über dicke und dünne Menschen denkt. Sie hat gesagt: "Die Dicken müssen dünner werden." Ich war erstaunt. Das zeigt, wie früh wir mit dieser Abwehrhaltung gegenüber dicken Menschen sozialisiert werden. Es beginnt in Kinderfilmen: Die Heldinnen sind untergewichtig, die Bösewichte dick. So entstehen Bilder im Kopf, die sich nicht mit der Realität decken, und das führt dazu, dass Menschen mit Adipositas stigmatisiert und diskriminiert werden ...

STANDARD: ... auch von Ärztinnen und Ärzten. Zwischen 80 und 90 Prozent aller mehrgewichtigen Menschen geben in Umfragen an, im gesundheitlichen Setting stigmatisiert worden zu sein. Studien zeigen, dass sich Ärztinnen und Ärzte weniger Zeit für jemanden nehmen, wenn er oder sie Adipositas hat.

Itariu: Ja, das stimmt leider. Oder wenn jemand neben Adipositas noch andere Krankheiten hat, wird alles auf die Adipositas geschoben. Ich erinnere mich an meine Zeit in der Notaufnahme, da haben meine Kolleginnen und ich genau das auch bemerkt. Dicke können mit einer Axt im Schädel kommen, und der Arzt wird sagen, nehmen S' ab. Dadurch ziehen sich Betroffene auch immer weiter zurück und gehen ungern zum Arzt oder zur Ärztin, weil sie wissen, was da auf sie zukommt.

STANDARD: Wie kann das sein?

Itariu: Viele Ärztinnen und Ärzte denken bis heute, dass sich Betroffene halt nur ein bisschen anstrengen müssten, um abzunehmen. Aber das kommt aus einer Hilflosigkeit heraus, weil man bei Adipositas lange Zeit keine guten Therapien im Angebot hatte. Blutfette kann ich als Internistin therapieren. Magengeschwür genauso. Aber bei Adipositas steht in vielen Arztbriefen drinnen, "Gewichtsreduktion empfohlen", mit fünf Ausrufezeichen, aber es steht nicht dabei, wie das funktioniert. Das ist in der Umwelt, in der wir leben, aber nicht so einfach. Ich schreibe ja auch nicht jemandem mit Blutdruckproblem in den Befundbericht: "Schauen Sie, dass Sie einen guten Blutdruck bekommen!" Dass man bei Adipositas bisher keine besseren Antworten hatte, ist frustrierend.

Adipositas wird nicht als Erkrankung, sondern als Charakterschwäche wahrgenommen, kritisiert die Internistin Bianca Itariu.
Foto: Alexander Jürets

STANDARD: Aber abnehmen ist doch simpel, denken viele. Einfach weniger Kalorien aufnehmen, als man verbraucht, oder?

Itariu: Es gibt so viele Faktoren, die dabei eine Rolle spielen: die Genetik, das soziale Umfeld, die Umwelt und so weiter. Adipositas ist eine komplexe chronische Erkrankung. Die betroffenen Menschen hören bis heute immer wieder dieselben Ratschläge, die zu kurz greifen: Nehmen Sie einfach ab. Essen Sie halt einfach weniger. Bewegen Sie sich doch einfach ein bisschen mehr. Aber nichts davon ist einfach.

STANDARD: Warum hinkt die Medizin da so hinterher?

Itariu: Übermäßiges Fettgewebe bei so vielen ist ein neues medizinisches Phänomen, das gab es in der Menschheitsgeschichte zuvor noch nie. Wir wissen, dass Menschen mit einer hochgradigen Adipositas, also einem BMI über 40, eine um sieben bis neun Jahre kürzere Lebenserwartung haben. Bei jemandem mit einem BMI knapp über 30 sind die Zahlen nicht mehr so eindeutig. Ich habe Patientinnen mit einem BMI von 30 und einer gleichzeitig ganz normalen Fettmasse, weil sie sehr viel Krafttraining machen. Die haben perfekte Laborwerte und weit und breit keine Krankheitsanzeichen. Gleichzeitig kann jemand mit einem BMI von 27 schon eine Fettleber und hohe Cholesterin- und Blutdruckwerte haben. Oder noch ein extremeres Beispiel: Ich habe einen 18-jährigen Patienten, der 150 Kilo wiegt. Er ist aber weder psychisch noch funktionell eingeschränkt, seine Laborwerte sind perfekt. Er fühlt sich wohl und will keine Therapie.

STANDARD: Das Abnehmmedikament Ozempic bekommt als Therapieansatz aktuell viel Aufmerksamkeit. Zu Recht?

Itariu: Ja, das ist ein Medikament mit viel Potenzial, aber man muss genauer hinsehen. In Großbritannien wurde es beispielsweise jetzt als Arzneimittel zur Behandlung von Adipositas zugelassen, allerdings nur für zwei Jahre. Dabei ist Adipositas in zwei Jahren ja nicht weg, es ist eine chronische Erkrankung. Aber zumindest tut sich ein bisschen was in die richtige Richtung.

STANDARD: Sie sagen, dass nicht alle Menschen mit Adipositas zwingend krank sind. Aber Adipositas bedeutet doch "krankhafte Fettleibigkeit". Definieren wir Adipositas also womöglich falsch?

Itariu: Das ist die entscheidende Frage, die auch die Medizin aktuell intensiv beschäftigt. Im Moment ist der Body-Mass-Index der einzige Parameter für die Diagnose. Ist der BMI größer oder gleich 30, spricht man von Adipositas. Aber man müsste tiefer gehen, der BMI ist unzureichend. Die medizinische Fachzeitschrift The Lancet hat deshalb unlängst eine Kommission aus Fachleuten zusammengestellt, die erarbeiten soll, wie genau man eine klinische Adipositas nun diagnostiziert: Ab wann ist jemand krank?

STANDARD: Und, ab wann? Dicke Körper werden oft unter dem Vorwand, man mache sich sorgen um die Gesundheit von Betroffenen, kritisiert. Wie oft ist diese Sorge berechtigt?

Itariu: Adipositas ist ab dann eine Erkrankung, wenn Ärzte und Ärztinnen die folgende Frage mit Ja beantworten können: Hat mein Patient oder meine Patientin ein medizinisches Problem, das sich wahrscheinlich durch Gewichtsreduktion beheben lässt? Die Sorge ist also nur zum Teil berechtigt, aber das ist den Betroffenen, so sie denn tatsächlich gesundheitliche Probleme haben, auch bewusst. Es ist wie bei jemandem, der raucht oder zu viel trinkt. Ich frage mich: Was genau ist dann die Sorge der Außenstehenden? Wenn ich Stars wie die Musikerin Lizzo sehe, denke ich mir auch, dass sie nicht so gesund aussieht. Aber vielleicht ist das mein internalisierter Bias, und sie hat super Laborwerte. Vom Aussehen her kann es niemand beurteilen.

Die US-amerikanische Sängerin, Rapperin und Songwriterin Lizzo (35) setzt sich für die Akzeptanz von allen Körperformen ein.
Foto: Shawn Miller

STANDARD: Weil Sie Lizzo ansprechen, sie ist Vorreiterin von Bewegungen wie Body-Positivity und Body-Neutrality. Dabei geht es darum, Körper nicht zu bewerten. Kritische Stimmen meinen, Adipositas werde durch solche Bewegungen glorifiziert. Sehen Sie das auch so?

Itariu: Die Gesellschaft ist aktuell für dünne Menschen gemacht. Man muss sich nur die Sessel in der U-Bahn oder im Flugzeug anschauen oder auch die Betten im Spital. Body-Positivity sehe ich deshalb als eine wichtige Widerstandsbewegung mit vielen guten Seiten. Manches muss man kritisch beleuchten, aber für dicke Menschen ist zunächst einmal die wichtigste Botschaft: Es ist okay so, wie du bist. Wir haben ein Recht, über unsere Gesundheit mitzubestimmen, jeder und jede hat ein Recht auf Vernunft und Unvernunft.

Wir brauchen einen völlig wertfreien, pragmatischen Umgang mit dem Thema Fettleibigkeit. Wenn man bei der Vorsorgeuntersuchung merkt, dass der Blutdruck hoch ist, schaut man sich das genauer an. Und wenn der BMI hoch ist, sollte man sich das auch genauer anschauen. (Magdalena Pötsch, 13.5.2023)