Die Wissenschafterinnen Karina Grömer, Kayleigh Saunderson, Julia Unger und Eve Derenne schreiben über eine Tagung, bei der neben hochwissenschaftlichen Analysen auch Methoden der experimentellen Archäologie und partizipative Elemente zum Einsatz kamen.

Der Workshop "Interweaving Bell Beaker decorative motifs and textile patterns" wurde im Rahmen des Netzwerks Human Evolution and Archaeological Science (HEAS) organisiert, einem von der Universität Wien finanzierten interdisziplinären Forschungsnetzwerk, das sieben Forschungseinheiten innerhalb der Universität und zwei externe Institutionen – Naturhistorisches Museum Wien und Österreichisches Archäologisches Institut der ÖAW –, vereint. Das Kernthema von HEAS ist das Studium zur menschlichen Evolution, vergangenen Kulturen und Gesellschaften durch enge interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Integration naturwissenschaftlicher Methoden in archäologischer und historischer Forschung.

Eine paneuropäische Kulturerscheinung

Das Glockenbecherphänomen, das im Mittelpunkt dieses Workshops steht, war eine groß angelegte kulturelle Bewegung, die sich im dritten Jahrtausend vor Christus in Europa und Nordafrika ausbreitete. Archäologisch findet man etwa spezielle glockenförmige Gefäße, die oft als Grabbeigaben in Gräbern gefunden wurden, dazu Gegenstände zum Bogenschießen, persönliche Ornamente und Kupferwaffen. Obwohl dieses Phänomen der Archäologie seit über 200 Jahren bekannt ist, bleiben die Natur, der Entstehungsort und die Verbreitungsmechanismen dieses Phänomens in vielerlei Hinsicht ein Rätsel.

Eve Derenne meint zum Ausgangspunkt der Tagung: "Die glockenförmigen Becher mit ihren linearen und geometrischen Mustern waren der Ausgangspunkt für den interdisziplinären Workshop – da sie an Textilien erinnern. Beim Workshop sollen Strukturen, die bei Textiltechniken wie Weben und auch Mattentechniken entstehen, mit den Verzierungen auf den Gefäßen verglichen werden."

Glockenbecherensemble vom NHM .
Foto: J. Unger

Das Naturhistorische Museum als Innovation-Hub

Die Konzeption des Workshops sah ein vielfältiges Programm vor, das weit über den normalen "Konferenz"-Stil hinausging, wenn auch die Vormittagssession geprägt war von Vorträgen von Personen der Wissenschaft aus ganz Europa. Die Impulse und Diskussionen zu Themenbereichen wie Typologie, symbolische Elemente der Dekoration, Methoden der Artificial Intelligence und überregionaler Austausch während der Glockenbecherkultur konnten faszinierende neue Aspekte in der Forschung aufzeigen.

Deck 50, der in den letzten Jahren eröffnete neue Raum für Wissenschaftskommunikation am Naturhistorischen Museum, bot das ideale Setting für partizipative Elemente, die dann am Nachmittag die Szenerie beherrschten. Das Forscherlaboratorium, die Kreativzone, viele Tische im Hauptraum und die zwölf Meter lange Led-Wand wurden ausgiebig genützt, um im kreativen Rahmen verschiedene Aspekte zu diskutieren und interdisziplinäre Forschende verschiedener Richtungen, Experimentalarchäologinnen, Experimentalarchäologen, Restauratorinnen, Restauratoren etc. zusammenzubringen.

Vortrag von Eve Derenne mit gespannten Workshop-Teilnehmenden.
Foto: J. Unger

Die partizipativen Stationen

Anschließend zu den Vorträgen am Vormittag wurde das Nachmittagsprogramm als Hands-on Session gestaltet. Die Wissenschafterinnen und Wissenschafter nahmen an den vier Stationen teil, die das Ziel hatten, ein besseres Verständnis für die Verzierungstechniken aus diesem Zeitraum zu verschaffen. Eine Station präsentierte die originalen Glockenbecherfunde aus dem Naturhistorischen Museum Wien, während Vera und Ludwig Albustin rekonstruierte Gefäße und Verzierungstechniken zeigten. Weiters leitete Dorothee Olthoff eine Station zu Korbflechttechniken und Kayleigh Saunderson eine zu textilen Webtechniken. Diese beiden untersuchten experimentell mögliche Techniken, um die Muster der Keramik zu replizieren, denn möglicherweise inspirierten diese Techniken die Muster auf den Glockenbechern oder vice versa. Eine Verzierung, die oft auf den Glockenbechern auftritt, ist zum Beispiel das Schachbrettmuster. Dieses lässt sich in diversen textilen Techniken, die aus dem Endneolithikum bekannt sind, leicht herstellen.

Eine interessante Parallele fand sich außerdem zwischen anthropomorphen Steinstelen der Glockenbecherkultur aus der Schweiz und Textilfunden aus Norditalien, die die gleichen Rautenmuster aufweisen. Die Wissenschafterinnen und Wissenschafter waren besonders begeistert davon, die ihnen bekannten Verzierungen auf anderen Materialien zu sehen und ein besseres Verständnis für die jeweiligen Techniken zu entwickeln.

Hands-on-Station von Dorothee Olthoff zu Korbflechttechniken.
Foto: J. Unger
Ludwig Albustin erklärt und zeigt Verzierungstechniken an Glockenbechern.
Foto: J. Unger

Impulse für zukünftige Forschung

Durch den Workshop konnte das internationale Forschungsnetzwerk zur Glockenbecherkultur, "Archéologie et Gobelets" neue Anregungen gewinnen. Das Netzwerk, ursprünglich 1996 von einer kleinen Gruppe schweizerischer und französischer Archäologinnen und Archäologen gegründet, hat sich zum Ziel gesetzt, die Erforschung des Phänomens Glockenbecher zu fördern. Der Verein organisiert regelmäßig internationale Konferenzen und verbindet über 80 Forschende in mehr als einem Dutzend Ländern.

Die Textilstationen mit Weberei und anderen Textiltechniken wurden auch in Kooperation mit der COST-Action EuroWeb gestaltet. Dabei handelt es sich um ein paneuropäisches Netzwerk für die Erforschung von Textilien, von ihren Rohstoffen bis zur Secondhand-Nutzung, unter Einbeziehung von Wissenschaftsdisziplinen der Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften und mit Anbindung an Handwerk und Industrie. Das Hauptziel des Netzwerkes ist die oft übersehene gesellschaftliche und wirtschaftliche Relevanz von Textilien und deren Produktion durch die Jahrtausende zu unterstreichen Die Community der Textilforschenden profitiert von derartigen Aktivitäten, die erlauben, über den Tellerrand der eigenen Forschungsmaterie zu blicken und die künstlerischen Prinzipien besser zu verstehen. Karina Grömer meint dazu: "Ich finde die gegenseitige Befruchtung verschiedener Handwerkstechniken wie Textilproduktion, Töpferei und auch anderen sehr spannend. Das betrifft das Design, aber auch gestalterische Möglichkeiten."

Kayleigh Saunderson präsentiert textile Webtechniken.
Foto: J. Unger

Die Veranstaltung war der österreichischen Schnurkeramik- und Glockenbecherforscherin Daniela Kern gewidmet, die vor zwei Jahren allzu früh aus der Mitte der Forscherkolleginnen und Forscherkollegen gerissen wurde. (Karina Grömer, Kayleigh Saunderson, Julia Unger, Eve Derenne, 27.4.2023)