So warm wie in den vergangenen Tagen war die Meeresoberfläche durchschnittlich in den vergangenen Jahrzehnten noch nicht.
Foto: Amr Alfiky / Reuters

Eigentlich sollten die Meere derzeit abkühlen, zumindest im Durchschnitt. Denn der Großteil des Wassers der Erde befindet sich auf der Südhalbkugel, wo es Herbst ist. Stattdessen messen Satelliten und Bojen aktuell im Mittel die höchsten Temperaturen, die in einem Meter Tiefe unter der Wasseroberfläche erhoben werden. Seit Beginn dieser Messungen 1981 gab es keinen so hohen Wert, der noch dazu schon seit mehr als einem Monat erhöht ist.

Die durchschnittliche Oberflächentemperatur der Meere (auf Englisch "sea surface temperature", kurz SST) lag zuletzt (fetter Graph) weit über den Messungen vergangener Jahre und Jahrzehnte.
Bild: ClimateReanalyzer.org, NOAA OISST V2.1, Climate Change Institute, University of Maine, USA

Vor allem im Ostpazifik, vor der Küste Perus, ist der Ozean viel wärmer als sonst. Warum dies genau jetzt passiert, ist bisher unklar. Die Tatsache, dass sich die Meere so stark erwärmen, sei "eine echte Überraschung und sehr beunruhigend", sagte Ozeanforscher Mike Meredith gegenüber dem "Guardian". Die Rekorde dürften einen Auftakt für das Klimaphänomen El Niño liefern, das ab 2023 voraussichtlich für weitere extreme Hitzewellen – an Land und im Wasser – sorgt.

Ozeane als Puffer der Klimakrise

Nachdem zuletzt das Gegenstück, La Niña, die pazifischen Temperaturen prägte, wird es bald wieder Zeit für die Rückkehr der wärmeren Wetteranomalie. Mit El Niño könnte schon in den kommenden fünf Jahren die 1,5-Grad-Schwelle des Pariser Klimavertrags überschritten werden. Die Wahrscheinlichkeit dafür liegt bei 50 Prozent. Bisher erwärmte sich die Erde im Vergleich zur vorindustriellen Zeit im Mittel um etwa 1,15 Grad Lufttemperatur. Vor allem zu Beginn der El-Niño-Phase – und damit wohl vor allem im Jahr 2024 – sei es möglich, dass das Klimaphänomen 0,2 bis 0,25 Grad zusätzlich mit sich bringe, sagte Josef Ludescher vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) der BBC.

Das ist eine starke Zunahme – die ohne den Ausgleich der Ozeane aber wesentlich heftiger ausfallen würde, erläutert Meeresbiologe Gerhard Herndl von der Universität Wien. Fachleute berechneten, dass die Meere im Laufe der vergangenen 50 Jahre enorme Mengen an Wärme, die von uns durch die Verbrennung von fossilen Energieträgern und die dadurch emittierten Treibhausgase produziert wurde, aufgenommen haben: mehr als 95 Prozent. "Ohne diese Aufnahme wäre es an Land etwa 35 Grad Celsius wärmer, als es gegenwärtig ist", sagt Herndl im STANDARD-Gespräch.

Hitzewellen im Mittelmeer

Die schnelle Erwärmung der Ozeane könnte ein Anzeichen dafür sein, dass die globale Erhitzung schneller vonstattengeht, als es bisherige Modelle erwarten lassen. Denn das Meerwasser hat womöglich begrenzte Kapazitäten, den globalen Temperaturanstieg zu kompensieren, wie Fachleute befürchten. Im Moment sei es Meredith zufolge aber noch zu früh, um eine solche Entwicklung zu prognostizieren.

Von marinen Hitzewellen sei besonders das Mittelmeer betroffen, das sich im Vorjahr massiv erwärmte, sagt Meeresbiologe Herndl: "In der Adria hatte es zeitweise an die 30 Grad Oberflächentemperatur – das ist außergewöhnlich hoch."

Die Folgen für dort lebende Tiere, Pflanzen und andere Organismen: Sie wandern tendenziell in kühlere Gefilde ab und werden von Lebewesen abgelöst, die das wärmere Wasser gut aushalten. Auch der Nordatlantik und das arktische Meer erwärmen sich schneller als prognostiziert – mit dem Unterschied, dass die an Kälte angepassten Lebewesen der Polarmeere nicht mehr ausweichen können.

Wärme sorgt für höhere Meeresspiegel

Auch steigende Pegel sind eine Folge der Erwärmung. Die Tiefsee erwärmte sich über die vergangenen 50 Jahre um etwa 0,1 Grad Celsius, sagt Herndl. "Das erscheint relativ wenig, aber sie hat ein riesiges Volumen: Als Tiefsee gilt alles unterhalb von 200 Metern." Wenn sich dieses Wasser nur minimal erwärmt, dehnt es sich insgesamt stark aus. Dies führt zu einem Anstieg des Meeresspiegels.

Zugleich gibt es immer weniger Sauerstoff im Wasser, weil die Stoffwechselaktivität mit den Temperaturen ansteigt. Ein Lebensraum, der besonders stark und sichtbar angegriffen wird, ist das Korallenriff: Die Riffe brauchen mit 24 bis 28 Grad recht warmes Wasser, werden jedoch bei mehr als 30 Grad sehr anfällig und sterben ab, betont Herndl. Manchen Prognosen zufolge wird es 90 Prozent der Korallenriffe in etwa 30 Jahren nicht mehr geben. Der Verlust der reichen Biodiversität dieser Lebensräume kann sich auch auf andere Systeme negativ auswirken.

Fundamentaler Wandel

Die Meerestemperaturrekorde, die aktuell gemessen werden, könnten zur neuen Normalität gehören, mit der in verschiedenen Bereichen häufigere und intensivere Extremereignisse einhergehen. "Klimawissenschafter waren schockiert über die extremen Wetterereignisse im Jahr 2021. Viele hofften, dass es sich dabei nur um ein einzelnes extremes Jahr handelte", wird Erdsystemforscher Mark Maslin im "Guardian" zitiert. "Aber die Extreme setzten sich 2022 fort und treten nun auch 2023 auf."

Dies könnte sich auch auf die globalen Strömungsverhältnisse auswirken und damit zusätzliche fundamentale Klimaveränderungen in Gang setzen. "Als ausgleichender Faktor der Temperaturen zwischen Polarregionen und Tropen spielt das Meer eine große Rolle", sagt Herndl. Kämen Zirkulationen, die etwa vom Golfstrom angetrieben werden, zum Erliegen, würde es etwa in der Arktis wieder zunehmend kälter werden, in Tropen und Subtropen dafür viel heißer. "Das hätte dramatische Folgen für Menschen, weil gewisse Bereiche unbewohnbar werden: im Norden durch die zunehmende Eisbedeckung, in tropischen Regionen durch die Hitze." Die komplexen Systeme müssen allerdings noch besser erforscht werden, um mögliche Veränderungen besser vorauszusagen. (Julia Sica, 27.4.2023)