Vor der Präsidentschaftswahl am Sonntag ist der Ausgang noch völlig offen. Zwar führt Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu und ist bei der wichtigen jungen Wählerschaft beliebt, doch ist ihm Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan in den Umfragen auf den Fersen. DER STANDARD hat sich angesehen, was ein Sieg des jeweiligen Kandidaten oder auch ein Quasi-Unentschieden für die Politik und die Bevölkerung in der Türkei bedeuten könnte.

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Szenario 1: Amtsinhaber Erdoğan gewinnt und setzt auf noch mehr Nationalismus in seiner Amtszeit

Der derzeitige Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan.
Foto: APA/AFP/OZAN KOSE

Sollte der bisherige Präsident Recep Tayyip Erdoğan allen schlechten Umfragen zum Trotz die Wahlen am Sonntag so eindeutig gewinnen, dass eine Wahlanfechtung keinen Sinn ergibt, wird sich eine tiefe Depression bei mindestens der Hälfte der türkischen Bevölkerung einstellen.

Die Folge davon wären eine Lähmung des Landes und eine Auswanderungswelle bisher nicht gekannten Ausmaßes. Befürchtet wird, dass vor allem junge Akademikerinnen und Akademiker, die für sich keine Zukunft mehr in der Türkei sehen, das Land in Scharen verlassen werden.

Unabhängige Ökonomen rechnen im Übrigen damit, dass sich die Wirtschaftskrise in der Türkei in diesem Szenario noch einmal verstärken könnte. Denn die Kassen des Staates sind leer, und Erdoğan hat zahlreiche finanzielle Versprechen vor der Wahl gegeben. Diese kann er nur dann einhalten, wenn er in noch größerem Umfang als bislang Geld drucken lässt, was die Inflation weiter antreiben wird. Viele befürchten regelrechte Hungeraufstände, die mit noch mehr Repressionen als bislang bekämpft werden.

Weil es keine echte Hoffnung auf Verbesserung der Situation gibt, wird Erdoğan auf noch mehr Nationalismus setzen, was eine weitere Abwendung vom Westen und einen endgültigen Schwenk in Richtung Russland und China nach sich ziehen wird.

Oppositionspolitiker, die ihm noch gefährlich werden können, wie etwa der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu, werden im Gefängnis landen.


Szenario 2: Kemal Kiliçdaroglu gewinnt und muss die Wahlversprechen mit seiner Koalition umsetzen

Oppositioneller Präsidentschaftskandidat Kemal Kiliçdaroglu.
Foto: AFP

Allein dass Erdoğan durch eine demokratische Wahl abgesetzt werden konnte, wird eine große Euphorie und enormen Tatendrang freisetzen. Gleichzeitig werden der abgewählte Staatschef und seine Unterstützer alles daransetzen, die neue Regierung zu destabilisieren. Erzwungene Neuwahlen werden das langfristige Ziel der Erdoğan-Treuen sein.

Der äußere Druck und der Charme des Neubeginns werden die ideologisch völlig disparate Koalition wohl zunächst zusammenhalten. Die Regierungsparteien werden versuchen, ihre wichtigsten Versprechen umzusetzen: eine Aufwertung des Parlaments bei gleichzeitiger Einschränkung der Macht des Präsidenten, die Wiederherstellung des Rechtsstaates und einen wirtschaftlichen Neuanfang.

Kemal Kılıçdaroğlu, der gemeinsame Kandidat der türkischen Opposition, hat gute Chancen, neuer türkischer Präsident zu werden. Doch welche Pläne hat Kılıçdaroğlu?
AFP

Gerade bei Letzterem wird die Regierung unter Kılıçdaroğlu auf massive Unterstützung aus Europa angewiesen sein. Während Erdoğan die Staatspleite durch Gelder aus den Golfstaaten und billige fossile Brennstoffe aus Russland abwendet, muss die neue Staatsspitze auf kurzfristige Kredite aus Europa setzen, um überleben zu können.

Übersteht sie die erste Sturm-und-Drang-Phase, kommen die Mühen des politischen Alltags. Dabei wird auch wichtig werden, wie die ebenfalls am Sonntag stattfindende Parlamentswahl ausgeht. Behält die Erdoğan-Koalition eine Mehrheit in der Volksvertretung, wird es sehr schwierig mit der demokratischen Transformation. Kılıçdaroğlu könnte dann versucht sein, zunächst einmal mit Präsidialdekreten zu regieren – wie Erdoğan zuvor.


Szenario 3: Weder Erdoğan noch Kılıçdaroğlu schaffen im ersten Wahlgang eine überzeugende Mehrheit

Vor allem Veranstaltungen des Oppositionsbündnisses konnten vor der Wahl Euphorie unter den Anhängerinnen und Anhängern hervorrufen.
Foto: Reuters/Bektas

Zwar liegt Herausforderer Kılıçdaroğlu bei den letzten Umfragen knapp vor der Wahl bei 50 Prozent plus einer Stimme – was für den Sieg im ersten Wahlgang notwendig ist. Aber es ist dennoch sehr wahrscheinlich, dass weder er noch Amtsinhaber Erdoğan im ersten Wahlgang die 50-Prozent-Hürde knacken werden. Damit wird eine Stichwahl am 28. Mai notwendig.

Das Oppositionslager hat große Angst, dass es dann in den zwei Wochen bis zum Wahlgang zu gewalttätigen Zwischenfällen mit Erdoğan-Getreuen kommt, die der Bevölkerung zeigen sollen, was passiert, wenn ihr Kandidat die politische Bühne verlassen müsste. Nach dem Motto: Nur er kann dafür sorgen, dass im Land wieder Ruhe und Stabilität einkehren. Deshalb rufen die verantwortlichen Politiker der Opposition schon jetzt dazu auf, Ruhe zu bewahren und sich nicht provozieren zu lassen.

Die wahrscheinlichste Variante ist aber, dass Kılıçdaroğlu knapp gewinnt und die Erdoğan-Anhänger dessen Sieg nicht anerkennen. Die bisherige relative Ruhe hängt auch damit zusammen, dass der Amtsinhaber nach wie vor überzeugt ist, zu gewinnen. Muss er eine Niederlage hinnehmen, wird er wohl aggressiv reagieren.

Druck auf Wahlrat

Wie bereits nach der verlorenen Istanbul-Wahl 2019 würde Erdoğan versuchen, den Hohen Wahlrat so sehr unter Druck zu setzen, dass dieser einen erneuten Urnengang veranlasst. Die Spannung wird steigen, Angriffe auf die Opposition werden zunehmen. Erdoğan muss sich dann etwas einfallen lassen, um zu verhindern, dass er wie 2019 bei einer Neuwahl erst recht verliert. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 14.5.2023)