Ein 3D-Modell der bisher bekannten Kammern unter dem Stadtteil Sanità in Neapel. Die beiden färbigen Strahlen zeigen den Fokus der Myonendetektoren.
Bild: Tioukov, V, et al. (2023); (CC-BY 4.0)

Elementarteilchenphysik ist für gewöhnlich als wenig anwendungsfreundlich bekannt. Zwar ist es möglich, mithilfe von Protonenstrahlen Krebs zu behandeln, doch meist dient das Wissen über die kleinsten Bausteine der Materie rein dem Verständnis des inneren Aufbaus der Welt und ist ansonsten, ganz im Sinn von Nobelpreisträger Anton Zeilinger, "zu nichts gut".

Unser Alltag wird fast zur Gänze von nur wenigen Teilchen bestimmt, den Protonen, Neutronen, Elektronen und Photonen. Alle anderen Teilchen, etwa die mit den Elektronen verwandten Myonen, treten auf der Erde nur in Teilchenbeschleunigern in Erscheinung, wo sie mit hohem Aufwand erzeugt werden müssen. Eine gewisse Menge davon gelangt zudem als kosmische Strahlung auf die Erde.

Seit einigen Jahren gelingt es aufsehenerregenden Wissenschaftskooperationen aus Teilchenphysik und Archäologie jedoch, die flüchtigen Myonen für Forschungszwecke einzusetzen, um mit ihnen massiven Fels zu durchleuchten und so ins Innere von massiven Strukturen zu blicken, die sonst unzugänglich sind. In Neapel wurde nun auf diese Weise eine hellenistische Totenstadt untersucht und dabei eine bereits vermutete weitere Kammer gefunden.

Blick ins Innere der Pyramide

Ihre Feuertaufe erhielt die Technologie, die Myonenradiografie genannt wird, in Ägypten. Schon seit jeher beflügelt die Idee versteckter Räume in der größten aller Pyramiden die Fantasie der Menschen. Doch trotz immer besserer archäologischer Methoden blieb der Blick ins Innere des steinernen Komplexes verwehrt.

Vor einigen Jahren war die Aussagekraft der Myonenradiografie noch umstritten. Doch kürzlich konnte eine Sonde die Existenz einer neuen Kammer in der Cheopspyramide an der vorhergesagten Stelle bestätigen.
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Abhilfe schaffte kosmische Strahlung aus Myonen. Sie entstehen in der Atmosphäre in großer Zahl durch den Beschuss von Protonen aus dem All. Durch das Auslegen der im Inneren gelegenen Grabkammer mit Teilchendetektoren gelang es, die darüberliegende Pyramide nach Hohlräumen zu durchleuchten. Der kosmische Myonenbeschuss wird nämlich durch massives Gestein gerade genügend abgeschirmt, um Räume im Fels zu erkennen. Tatsächlich wurde über der sogenannten großen Galerie eine große Kammer entdeckt. Erst kürzlich gelang es, zwischen Ritzen in den Blöcken eine Sonde einzuführen und einen ersten Blick ins Innere dieses Raums zu werfen.

Totenstadt unter Neapel

Die jüngste Anwendung fand diese Technologie nun in der italienischen Metropole Neapel, und auch hier war das japanische Team um Kunihiro Morishima beteiligt, das die Untersuchungen an der Cheopspyramide durchgeführt hatte. Im Tuffgestein etwa zehn Meter unter der Stadt ist eine griechische Nekropole erhalten. Sie lag ursprünglich vor den Mauern der Stadt Neapolis, von der sich der Name Neapel ableitet.

Einige der Räume der Totenstadt wurden bereits im 19. Jahrhundert entdeckt. Schon seit längerer Zeit war spekuliert worden, dass es weitere Räume geben könnte.
Foto: Tioukov, V, et al. (2023); (CC-BY 4.0)

Gänzlich erforscht ist die Anlage nicht. Das liegt zum Teil daran, dass das Gelände darüber dicht verbaut ist. Nun berichtet ein italienisch-japanisches Forschungsteam der Universität Federico II und des nationalen Kernphysikinstituts INFN in Neapel sowie der Universität Nagoya in der Studie im Fachjournal "Scientific Reports" von der Entdeckung einer neuen Kammer.

Zur Anwendung kam dabei erneut Myonenradiografie. Wie schon bei früheren Studien wurden dafür sogenannte Emulsionsdetektoren verwendet, die eigentlich aus der Frühzeit der Teilchenphysik stammen. Es handelt sich dabei im Prinzip um Platten mit lichtempfindlichem Material – den älteren Semestern unter uns noch aus der Analogfotografie bekannt.

Sie sind mit einem Gel bestrichen, das in der Lage ist, die Spuren durchfliegender Elementarteilchen sichtbar zu machen. Es enthält Kristalle aus einer Verbindung der Elemente Silber und Brom, die entlang der Teilchenspuren zu reinem Silber werden. Der Vorteil dieser altmodischen Technologie: Sie ist robust und bedarf keiner Stromversorgung, sodass die Detektoren wochenlang autonom in der Dunkelheit arbeiten können. Laut den Forschenden des INFN floss bei der Entwicklung das Know-how der Gruppe aus ihrer Arbeit an den Kernforschungszentren Cern bei Genf und Gran Sasso ein.

Die Detektoren bestanden aus dünnen Platten aus lichtempfindlichem Material.
Foto: Tioukov, V, et al. (2023); (CC-BY 4.0)

Detektoren in Schinkenkeller

Wie komplex die unterirdische Situation im Tuffgestein Neapels ist, zeigt die Lage, die das Team für die Detektoren wählte. Wie schon bei der Cheopspyramide war es entscheidend, sie unter den zu untersuchenden Felsbereichen zu platzieren. Man entschied sich für einen in 18 Meter Tiefe gelegenen Keller aus dem 19. Jahrhundert, in dem ursprünglich Nahrungsmittel gelagert wurden. Dieser historisch viel jüngere, aber fast doppelt so tief gelegene Raum machte die Beobachtungen erst möglich.

28 Tage lang sammelten mehrere Detektoren Daten und zeichneten dabei die Spuren von etwa zehn Millionen Myonen auf. Die Verwendung verschiedener Messpunkte war nötig, um ein Stereobild der Situation über dem Kellerraum zu erhalten.

Die Unterschiede zwischen den Aufzeichnungen der Detektoren zeichnen ein Stereobild der darüber liegenden Hohlräume.
Bild: Tioukov, V, et al. (2023); (CC-BY 4.0)

Historische Begräbnisstätte

Der neue Raum ist Teil einer größeren Begräbnisstätte aus dem vierten und dritten Jahrhundert vor Christus, die bereits im 19. Jahrhundert unter dem Schloss der Familie Donato entdeckt worden war. In den 1980er-Jahren enthüllten seismische Untersuchungen zwei weitere Gruften, die im Fachjargon Hypogäen heißen. Die Hoffnung, weitere Kammern zu entdecken, war also durchaus begründet.

Die Hypogäen an der Via dei Cristallini wurden von ihren Besitzern erst dieses Jahr für Interessierte geöffnet und können nun besichtigt werden. Dass die Gräber in zehn Meter Tiefe liegen, verdanken sie regemäßig auftretenden Muren, die bis in die 1960er-Jahre das Tal heimsuchten und erst durch durch eine Erneuerung der Wasserwirtschaft aufhörten.

Für die Wissenschaft sind Totenstädte wie jene unter der Via dei Cristallini von großem Wert, weil sie durch ihre unterirdische Lage oft ausgezeichnet erhalten sind. Ein Beispiel dafür ist die römische Nekropole unter dem Vatikan, die beim Bau des Petersdoms mit Erde gefüllt und so konserviert wurde.

Was der neue Raum enthält, ist bislang nicht bekannt. Er könnte den bisher gefundenen Hypogäen ähneln, die prunkvoll mit Malereien und Plastiken geschmückt waren und mehrere Gräber enthielten.

Kritik getrotzt

Das Durchleuchten von Felsgestein auf der Suche nach verborgenen Kammern hat in der Archäologie eine nicht immer ruhmreiche Tradition. Seit 2015 gab es Berichte von einer verborgenen Kammer im Grab des Pharaos Tutanchamun, die durch Radarmessungen vermeintliche Bestätigung erhielten. Doch inzwischen gelang es Forschenden aus Italien, die Existenz einer weiteren Kammer mithilfe von genauen Radarmessungen auszuschließen.

Der Myonenradiografie, die im Fall der Untersuchungen der Cheopspyramide ebenfalls Kritik ausgesetzt war, scheint mehr Erfolg beschieden zu sein. Neben den genannten Einsatzbeispielen gibt es auch Untersuchungen der Naryn-Kala-Zitadelle in Dagestan. Vor ihrem Einsatz in der Archäologie kam die Technologie bei der Untersuchung eines Vulkans auf den japanischen Ösumi-Inseln zum Einsatz. Dabei wurden die Detektoren aber nicht unter, sondern neben dem Vulkan platziert. (Reinhard Kleindl, 17.5.2023)