Näher bei der Textilverarbeitung
Im Fokus der Debatte steht häufig der Textilbereich. Anwendbar wäre die Richtlinie aber in allen Wirtschaftssektoren, von Lebensmitteln bis zur Elektronik.
AFP/ISSOUF SANOGO

Die EU-Mitgliedsstaaten wagen einen weiteren Anlauf und beraten am Donnerstag in Brüssel erneut über die geplante EU-Lieferkettenrichtlinie. Ein erstes Votum war Anfang Februar gescheitert. Neben Deutschland hatten sich Österreich und weitere Staaten auf den letzten Metern umentschieden, obwohl sich die EU-Institutionen vergangenen Dezember auf politischer Ebene vorläufig geeinigt hatten.

Am Mittwoch steht die Richtlinie nun neuerlich auf der Tagesordnung der ständigen Vertreter der EU-Staaten. Ob es eine Abstimmung geben wird, blieb vorerst unklar. Auf STANDARD-Anfrage hieß es seitens des österreichischen Außenministeriums, dass "nach derzeitigem Stand" auch eine Abstimmung geplant ist. Laut dem deutschen Wirtschaftsministerium gibt es dagegen "keine Einladung zu einer Abstimmung".

Verantwortung für Unternehmen

Die EU-Richtlinie soll Unternehmen zu mehr Verantwortung in ihrer Lieferkette verpflichten. Konkret sollen Konzerne ab 500 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 150 Millionen Euro ihre direkten und indirekten Zulieferer auf Verstöße gegen Menschen- und Umweltrechte kontrollieren. Für gefährdete Branchen wie den Textilsektor gilt eine niedrigere Schwelle von 250 Beschäftigten und 40 Millionen Euro Umsatz.

Indirekt betroffen wären aber auch Klein- und Mittelbetriebe, weil größere Konzerne ihre Pflichten vertraglich an ihre direkten Zulieferer weitergeben werden. Zwar müssen kleinere Betriebe laut dem Richtlinienentwurf von größeren Vertragspartnern unterstützt werden, vielen Kritikerinnen und Kritikern geht das aber nicht weit genug. Sie fürchten, dass die Verantwortung auf kleinere Betriebe abgewälzt wird und diese mit zusätzlicher Bürokratie zu kämpfen hätten.

Argumente der Wirtschaft

Vor allem die Wirtschaftskammer (WKÖ) und die Industriellenvereinigung (IV) hatten vor der vergangenen Abstimmung am 9. Februar gegen zusätzlichen Bürokratieaufwand kampagnisiert. Ökonomen wie Harald Oberhofer oder von der WU Wien argumentierten, dass die Richtlinie dazu führen könnte, dass sich europäische Unternehmen gänzlich aus Risikoländern zurückziehen, was deren wirtschaftlichen Aufschwung erst recht schwieriger machen könnte.

Zu den Befürwortern des Vorhabens zählen die Arbeiterkammer (AK), die SPÖ und NGOs, aber auch das österreichische Justizministerium unter Alma Zadić (Grüne). Fürsprecher erwarten sich von der Richtlinie eine Verbesserung der Arbeits- und Umweltbedingungen in vielen Produktionsländern. Nach dem Umschwenken Deutschlands und Österreichs orteten AK und NGOs ein Einknicken der Politik vor den Interessenvertretungen der Wirtschaft.

Richtlinie abgeschwächt

Laut der Richtlinie wären Unternehmen in erster Linie dazu verpflichtet, Kontrollsysteme einzurichten, um negative Auswirkungen auf Menschenrechte und Umwelt bei ihren Zulieferern zu erkennen und zu verhindern. Im Gegensatz zum deutschen Lieferkettengesetz müssten Unternehmen nicht nur ihre direkten Zulieferer unter die Lupe nehmen, sondern die gesamte Wertschöpfungskette. Das kann etwa über die Anpassung von Verträgen passieren, stichprobenartige Kontrollen und ein Beschwerdesystem, an das NGOs Hinweise schicken können.

Im Zuge der mehr als zweijährigen Verhandlungen wurde die Richtlinie bereits an mehreren Punkten abgeschwächt. So wurde etwa die zivilrechtliche Haftung von Unternehmen entschärft, die Beendigung einer Geschäftsbeziehung ist in der Richtlinie zudem explizit als das "letzte Mittel" definiert, sollten bei einem Zulieferer wirklich keine Verbesserungen möglich sein. Selbst in diesem Fall muss die Geschäftsbeziehung aber nicht beendet werden, wenn die Beendigung noch schwerere Folgen hätte als die Aufrechterhaltung – was einen breiten Interpretationsspielraum übrig lässt.

Kompromiss möglich?

Ein möglicher Kompromissvorschlag könnte etwa vorsehen, dass bestimmte "sichere" Regionen, Herkunftsländer oder Produzenten explizit aus der Richtlinie ausgenommen werden. Staatliche Institutionen oder NGOs könnten entsprechende Listen aufsetzen und so Unternehmen zumindest teilweise entlasten.

Ob es dazu kommt, bleibt vorerst offen. Damit die Richtlinie angenommen wird, bräuchte es eine qualifizierte Mehrheit im EU-Rat. Zustimmen müssten demnach 15 von 27 Mitgliedsstaaten, die mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU repräsentieren. Das gibt bevölkerungsreichen Ländern wie Deutschland ein größeres Gewicht. Eine Enthaltung, wie zuletzt seitens von Deutschland und Österreich, gilt als Nein-Stimme. (Jakob Pflügl, 28.2.2024)