Der Populismus hat Eingang in die Mitte der Gesellschaft gefunden.

Cartoon: Michael Murschetz

Nach Jahrhunderten blutiger Konflikte und des Elends, hervorgerufen durch Glaubenskämpfe, Machthunger und Nationalismen, bis hin zur Totalkatastrophe der versuchten Auslöschung eines ganzen Volkes, wurde eine Idee realisiert, die uns allen Wohlstand, Frieden und Toleranz brachte. Das Ziel war es, durch eine allmähliche Verflechtung der Volkswirtschaften, die Freizügigkeit der Bewegung innerhalb Europas und eine einheitliche Währung es unmöglich zu machen, dass die Nationalstaaten erneut gewaltsam gegeneinander auftreten würden.

Das Ergebnis gab den Visionären recht: Europas Gemeinschaft ist weltweit der stärkste Wirtschaftsraum geworden, ohne Massenarmut oder bewaffnete Auseinandersetzungen, ohne Diktatur. Die EU-28 sind die grundrechts- und demokratiefreundlichste Region global betrachtet.

Implosion ins Nichts

Und nun – trotz dieser Erfolge und Errungenschaften – droht dieser Union eine Implosion ins Nichts, die Rückkehr in Nationalismen und ins Völkische, verbunden mit der Angst vor dem Anderen und Fremden, nationale Austritte aus der Europäischen Union, gar die Forderung nach weniger Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Vordergründig wird die sogenannte Flüchtlingswelle – ein fürchterliches Wort, welches eher eine Naturkatastrophe beschreibt als den puren Überlebenskampf von Menschen – für dieses Auseinanderdriften des europäischen Gedankens verantwortlich gemacht. Politik, Medien, der Stammtisch – sie alle sehen in den ausgezehrten Gesichtern der Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder Afrika ein Zeugnis dafür, dass Europa in sich zusammenfallen könnte.

Terroranschläge von Menschen bedrohen die friedliche Insel Europa, ausgeführt von Irren, die sich selbst einreden, im Namen einer Religion Richter über Leben und Tod sein zu wollen. Gleichzeitig müssen Andersgläubige in Europa, Muslime wie auch Juden, erneut dafür herhalten, dass ein anderer Glaube die Identität des Okzidents untergraben, den bereits in der Vergangenheit en masse vergewaltigten Begriff der Heimat des Deutschen, Franzosen, Österreichers in einen nahöstlichen Basar umformen könnte: Es kehren die gefährlich diffusen, national gefärbten Ängste in das Bewusstsein der europäischen Nationen zurück!

Denjenigen, die eine Restauration des Nationalismus fordern, die Zerstörung des europäischen Gedankens, die Rückwendung zur Intoleranz, denjenigen, die meine Religion vergewaltigen, indem sie im Namen Allahs Menschen umbringen, Frauen in die Zwangsheirat treiben, sich hier in Europa nicht integrieren wollen, rufe ich zu: Ich bin Feministin, gläubige Muslimin, Gründerin der ersten liberalen Moschee in Berlin. Gerade mein Glaubensbekenntnis, meine Herkunft aus einer kurdisch-türkischen Familie sowie mein Leben in Deutschland sind die Hauptgründe dafür, die Grundwerte Europas, niedergeschrieben in der Grundrechtecharta, als die Maxime für Respekt, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit gelten zu lassen.

Bekenne mich zu Europa

Ich bekenne mich zu dieser Gesellschaft und diesen universellen Werten, die mir sehr viel ermöglicht haben in meinem Leben. Ich lebe seit Jahren aufgrund permanenter Morddrohungen und Angriffe unter ständigem Personenschutz durch das Landeskriminalamt Berlin, weil ich mich zu einem Islam bekenne, der Teil Europas und seiner Werte ist. Diese Werte müssen immer wieder neu verteidigt werden.

In der gegenwärtigen Zeit reicht es allerdings nicht nur aus, sie zu unterstützen, sie müssen vielmehr auch wieder plakatiert und diskutiert werden.

Als Mitbegründerin der Europäischen Bürgerinitiative "Stop Extremism" musste ich immer wieder feststellen, dass Europa nicht den Dialog mit seinen Bürgerinnen und Bürgern sucht, sich der Diskussion stellt. Wir alle müssen erkennen, dass ohne einen neuen Bund der Menschen in Europa mit diesen Grundrechten viel zerstört wird, was nur schwer wieder zu reparieren ist. Dabei ist es wichtig, Fehler einzugestehen und diese nachhaltig, auf der Basis der Grundrechtecharta, zu beheben.

Einiges ist schiefgelaufen

Der sogenannte Populismus hat bereits Eingang in die Mitte der Gesellschaft gefunden, wenn die Abschottung von Europas Außengrenzen als Conditio sine qua non und Allheilmittel gefeiert wird, während gleichzeitig die Erkenntnis ignoriert wird, dass über Jahrzehnte bei der Integrationspolitik für Migranten in unseren Ländern und der Entwicklungshilfe in den Ländern, aus denen die Menschen fliehen, einiges schiefgelaufen ist, auch auf Basis von Regierungsentscheidungen.

Wo sind die offiziellen Stimmen Europas, die sagen, dass die Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan genau vor der Gewalt fliehen, die auch hier in Europa immer mehr um sich greift, nämlich der des islamistischen Terrors und Extremismus? Wo sind die Politiker, die der Finanzierung extremistischer Gruppen durch Staaten wie Katar, der Türkei oder dem Iran endlich den Riegel vorschieben? Wo sind die europäischen Länder, die ehrlicherweise zugeben, dass sie mit ihren Waffengeschäften in Kriegsgebieten Fluchtursachen schaffen, statt Fluchtursachen zu bekämpfen? Wo sind die Fußballer, die nicht nur stolz auf ihre Heimat Türkei sind, sondern auch gleichzeitig die massiven Grundrechtsverletzungen dort kritisieren? Wo sind die Regierungen, die den Verlierern des von unregulierten Finanzmärkten angetriebenen Kapitalismus eine Alternative bieten, ohne dabei die Fremden dafür verantwortlich zu machen?

Ja, Europa und seine Politiker müssen auf die Bürgerinnen und Bürger hören, sie sind deren Repräsentanten. Wir brauchen einen neuen Bund zwischen den Bürgern Europas und dessen politischer Elite, bei dem auch die europäischen Institutionen wie Parlament und Kommission eine stärkere demokratische Legitimation erhalten.

Vertrauen gewinnen

Nur so, bei gleichzeitiger Subsidiarität, ist die Vision Europa für seine Menschen glaubhaft und kann Vertrauen zurückgewinnen. Vertrauen in das wunderbare Friedensprojekt Europa.(Seyran Ateş, 24.8.2018)