Im Gastkommentar widmet sich der Schriftsteller Richard Schuberth dem Realitätsverlust in der Katastrophe und der der Verharmlosung eines Attentäters als "Oaschloch".

In den sozialen Medien geht's zu wie in der Demokratie. Alle haben was zu sagen, und keine Stimme hat Gewicht. Jede kann dort Bundespräsidentin sein, jeder Schulsprecher – und ist genauso irrelevant. Kein Attentat kann schlimm genug sein, dass nicht jeder dort mit seiner Ansprache an die Nation der Nachwelt ein ideelles Selfie mit den Leichen hinterließe, seine tiefe Betroffenheit bekundete, sein Mitgefühl mit den Opfern und dessen Liebsten, seine Abscheu über zumeist feige Attentate – als wünschte er sich mutige – und die unverzichtbare Verurteilung der Gewalttat ausspräche – als wartete er wie im Actionfilm auf eine, die zu beklatschen wäre. Fachkundig räsonieren die Spezialisten im Netz dann, ob Einzeltäter oder nicht, und selbstverständlich muss betont werden, dass nicht alle Muslime so seien. Enden tun die Bulletins dieser beinahe aggressiven Konstruktivität immer mit einem Appell an Zusammenhalt und Gemeinschaft.

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"Gefällt mir"? In den sozialen Medien wurden nicht nur Mitgefühl und Betroffenheit geäußert.
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Diese Messages sind so einfallsreich und notwendig wie Muttertagskarten. Das ist letztlich der Sinn dieser asozialen Gemeinschaft der einander Likenden: die narzisstische Gier nach Bestätigung sich als höchste Selbstlosigkeit anrechnen zu lassen. So wie der Gesinnungsposter, der früher als Stubenhocker verlacht worden wäre, heute als engagiertester Aktivist figuriert, wirkt derjenige, der sich heimlich noch immer einen Keller des außerdigitalen Lebens hält, als unsolidarischer Eigenbrötler. Wer also nicht laut und pathetisch bei diesem Dumping bürgerlicher Reife und Betroffenheit mitmacht, steht unter Verdacht, nicht betroffen genug oder gar Sympathisant der Islamisten zu sein.

"Oaschloch" wie du und ich

Doch auch den Täter verharmlost ein Bewusstsein, das sich lieber von Likes als von Gedanken ernährt. Ein Augenzeuge soll dem Attentäter von Wien "Schleich di, du Oaschloch" zugerufen haben, und schon sammelte sich die auseinandergescheuchte Herde hinter einem heimeligen Slogan, der so nie gesagt wurde. Mit bundesdeutschem Akzent war dem Mörder Arschloch und Motherfucker nachgeschrien worden. Doch zu spät. Das akute Bedürfnis nach einer verbindlichen Lokalidentität einigte sich auf ein plebejisches Wienerisch, das der alternative Wiener Mittelstand nicht hat und deshalb permanent nachäffen will.

Bewährte sich Oaschloch seit dem Urgrund aller Zeiten als Bezeichnung eines Ungustls, der einem die Likes auf Facebook verweigert, oder einer Ungustelin, die einem den Laufpass gab, erfuhr es am 2. November eine spektakuläre Bedeutungserweiterung: Oaschloch ist seither auch jemand, der auf der Straße vier Menschen er- und 22 anschießt. So assimiliert der Wiener den Schrecken an sich. Der Herr Jihadist is ja auch nur ein Oaschloch wie du und ich.

Der Spruch aber müsste in seiner vollen Länge heißen: Schleich di, du Oaschloch, und loss mi in Ruah. Das nämlich wäre der adäquate Kampfgeist der Wiener: die passiv-aggressive Verteidigung der Komfortzone gegen jede Störung, egal ob killende Islamisten, zu laute Mopedfahrer oder sozialpolitische Forderungen nach ein bisserl mehr als milden Gaben.

Der gute Muslim

Wie sehr viele sich fortschrittlich wähnende Menschen den rechten Rassismus mit umgedrehten Vorzeichen fortführen, zeigt der Eiertanz, den sie auf der Suche nach den guten Muslimen aufführen. Schon der hysterische Enthusiasmus darüber, dass Muslime auch hilfsbereit sein und sich gegen Jihadisten stellen können, offenbart, wie sehr er sich von der normativen Macht des rechten Vorurteils anstacheln lässt.

Der eigentliche Rassismus aber besteht darin, die Zivilcourage von Menschen muslimischen Glaubens oder muslimischer Herkunft als muslimische Zivilcourage zu werten. Die rechte Totalidentifikation dieser Menschen als Muslime wird von links projektiv übernommen. Und die beiden Helden von Wien würden als gläubige Muslime bestimmt nicht widersprechen. Doch sind sie noch mehr als das. Denn bei den beiden stadtbekannten türkischen Faschisten hat die fiebrige Suche nach dem Muslim zum Liebhaben erwartungsgemäß danebengegriffen. Ihre Social-Media-Profile strotzen vor Bekenntnissen zu den Grauen Wölfen.

Wer einen Post eines der beiden jungen Männer, nämlich dass ihm das IS-Attentat vom Breitscheidplatz in Berlin überhaupt nicht leidtue, als Jugendsünde abtut, erfährt, dass sein Kumpel im Oktober letzten Jahres seine Hoffnung kundtat, dass "unsere Armee" (die türkische) den "Verrätern" (gemeint ist die kurdisch-dominierte multikulturelle Selbstverwaltung in Rojava mit ihren emanzipatorischen Errungenschaften) die Köpfe abreiße. Sein frommer Wunsch blieb nicht unerfüllt. Die beiden "Helden" stehen sogar weit rechts von der AKP, die der wohl größte logistische und ideelle Unterstützer jenes IS darstellt, in dessen Namen der zum Oaschloch verniedlichte Mörder mordete. Wunschdenken wird in die Heldentat einen Reifesprung von Saulussen zu Paulussen fantasieren, denn wie können sie eine projihadistische Politik vertreten und gleichzeitig alte Damen und Polizisten aus jihadistischem Sperrfeuer retten? Aber warum sollten sie weniger widersprüchlich handeln als die "westliche Wertegemeinschaft" selbst, die das neofaschistische Projekt Erdoğan kleinlaut maßregelt, es aber zugleich mit Geld und Waffen alimentiert und dessen Opfer im Stich lässt.

Politisches Kleingeld

Gar nicht klein ist das politische Kleingeld, das sich aus Attentaten schlagen lässt. Und zwar auf beiden Seiten des Gewehrlaufs. Die verständliche Angst vor Chaos, Tod und Desintegration lässt auch Linke aufs gesellschaftliche Denken verzichten und Schutz in Gemeinschaften suchen. Und schon wickeln sie sich ihren heißgeliebten Oaschloch-Slogan auf rot-weiß-roter Fahne um die Visagen ihrer Facebook-Profilfotos: "Je suis SchleichdiduOaschloch." Diese neopatriotische Verschleierung verschleiert vor allem, dass die Werte von Sebastian Kurz und Emmanuel Macron ganz und gar nicht ihre Werte sind.

Doch ebenso, wie der Mut der beiden türkischen Wiener zu würdigen ist, ohne ihren politischen Hintergrund zu verdrängen, muss man das Abstraktionsvermögen aufbringen, Macrons und Kurz' Verteidigungen von Säkularität und Moderne zu schätzen zu wissen, ohne ihren ideologischen Winkelzügen auf den Leim zu gehen, durch äußere Feinde, ob Terror oder Corona, die Notwendigkeit sozialer Kämpfe mit der Lüge der Wertegemeinschaft zu sedieren. Es bleibt der Denkfähigkeit der Menschen überlassen, ob sie den weißen Streifen in der Fahne durch einen weiteren roten ersetzen oder zumindest das "Schleich di du" mit Deckweiß retuschieren. (Richard Schuberth, 5.11.2020)