Österreich müsse sich sicherheitspolitisch neu ausrichten, das BVT sei aus der Zeit gefallen, sagt der Historiker Thomas Riegler im Gastkommentar. Lesen Sie dazu auch die Gastkommentare von Thomas Schmidinger und Erhard Busek.

Chronische Mangelverwaltung hinter den Mauern des Verfassungsschutzes in Wien-Landstraße.
Foto: Christian Fischer

Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass der Anschlag in der Wiener Innenstadt auch deshalb möglich wurde, weil die Terrorabwehr versagt hat. Kritisch wichtige Informationen aus der Slowakei sollen vom Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) nicht an die Justiz weitergegeben worden sein.

Die Gründe für dieses Versagen liegen freilich tiefer. Zunächst ist das BVT in den vergangenen zwei Jahren nie zur Ruhe gekommen: Am Anfang dieser Entwicklung steht die Hausdurchsuchung in der BVT-Zentrale 2018, die vom Kabinett des damaligen Innenministers Herbert Kickl vorangetrieben wurde. Mittlerweile ist von den ursprünglichen Vorwürfen fast nichts übrig geblieben. Die Amtshandlung war überschießend und hat viel Porzellan zerbrochen. Besonders schwerwiegend war die Beschlagnahme von klassifizierten Daten – darunter auch von ausländischen "Partnerdiensten". Das kostete das BVT viel Vertrauen. Für die kleine Behörde, die vom Informationsaustausch stark abhängig ist, eine veritable Katastrophe.

Schwache Strukturen

Im BVT-Untersuchungsausschuss wurden dann die Auswirkungen chronischer Mangelverwaltung offengelegt: kein zertifiziertes Aktenverwaltungssystem, zu wenige Tresore und vor allem zu wenig Personal. So zählte das Referat "Nachrichtendienst und Proliferation", das für die Spionageabwehr zuständig ist, Anfang 2018 gerade rund 30 Mitarbeiter. Wenn es tatsächlich freie Planstellen gab, wurden diese mitunter nach politischen Gesichtspunkten besetzt.

Diese Probleme sind aber auch lange historisch gewachsen: Die Zweite Republik verfügt seit ihrer Gründung über schwach ausgeprägte nachrichtendienstliche Strukturen – und ist gleichzeitig eine der wichtigsten Spionagedrehscheiben. Paradox ist das nur auf dem ersten Blick. Denn Spionieren ist nur dann strafbar, wenn es sich gegen österreichische Interessen richtet.

Österreich als "Ruheraum"

Diese Regelung ist ein Produkt der Nachkriegszeit und des Kalten Krieges. Geheim- und Nachrichtendienste aus Ost und West nutzten Wien als Spionageplatz und tun das bis heute. An eine effektive Abwehr war auch aus einem anderen Grund nicht zu denken. Es hätte dem Kerngedanken des "neutralen Begegnungsortes" widersprochen, mit dem sich die Zweite Republik traditionell abzusichern versucht. Bewusst hat man internationale Organisationen dazu ermutigt, sich in Wien anzusiedeln. Das Kalkül dahinter, salopp formuliert: "Wo der Kongress tanzt, da explodieren keine Bomben." Das hat viele Jahrzehnte mehr oder weniger gut funktioniert. Auch in Bezug auf den Terrorismus: Ende der 1970er-Jahre wurde etwa der PLO zugestanden, in Wien ein Büro zu eröffnen. Das trug dazu bei, dass die jüdische Emigration aus dem Ostblock über Österreich nach Israel laufen konnte. Aber auch sonst hatten Terrorgruppen ein Interesse daran, Österreich als "Ruheraum" oder Transitstation zu nutzen und nicht unnötig auf sich aufmerksam zu machen. Im Gegenzug wurde gegen diese Aktivitäten kaum etwas unternommen.

Doch diese informelle Sicherheitsdoktrin stößt mittlerweile an ihre Grenzen: Österreich befindet sich nicht mehr länger in der komfortablen Position als "neutraler Boden" zwischen Ost und West. Fremde Geheimdienste führen immer riskantere Operationen durch: 2018 erschütterte ein Spionageskandal das Bundesheer, Ende 2019 folgte eine massive Cyberattacke gegen das Außenministerium und 2020 ein Auftragsmord an einem tschetschenischen Aktivisten.

Kein "neutraler" Boden

Aber auch der radikal-islamistische Terrorismus kennt keine Rücksicht mehr: In den 1970er- und 1980er-Jahren hatte man es mit Organisationen zu tun, die konkrete politische Ziele verfolgten und oft von staatlichen Sponsoren kontrolliert wurden. Deshalb konnte man zur Not verhandeln. Nun handelt es sich um eine völlig andere Form der Bedrohung: diffus, netzwerkartig, ohne "Ansprechpartner" oder verhandelbare Agenda. Und von einem "homegrown" Attentäter kann man erst recht keine Abwägung erwarten, aus diesem oder jenem Grund in Wien nicht zuzuschlagen.

Mit dieser gesteigerten Gefahrenlage ist das BVT schlicht überfordert und scheint aus der Zeit gefallen. Seit 2019 schreitet ein Umbau voran: Man folgt im Wesentlichen dem deutschen Beispiel, wo die Polizeiarbeit getrennt vom nachrichtendienstlichen Bereich erfolgt. Am Ende dieses Prozesses dürfte Österreich zum ersten Mal in seiner Geschichte über einen echten Inlandsnachrichtendienst verfügen. Die ersten konkreten Änderungen betreffen neben einer neuen speziellen Ausbildung auch eine Vertrauenswürdigkeitsprüfung. Aber: Solche Reformvorhaben benötigen viel Zeit und Geld. Letztendlich wird es vor allem darauf ankommen, Österreich sicherheitspolitisch neu auszurichten. Es genügt nicht mehr länger, sich als "neutraler Boden" zu generieren und darauf zu zählen, außen vor gelassen zu werden. (Thomas Riegler, 6.11.2020)