Architektur und Politik gehören zusammen, auch das zeigt die Debatte um Freiräume in Wien, sagt Urbanistik-Professorin Sabine Pollak.

Ist genug Platz in der Stadt? Hier auf dem Karlsplatz ist der Konflikt zwischen Jugendlichen und Polizei am vergangenen Wochenende eskaliert.
Foto: Regine Hendrich

Jede Stadt braucht eine Agora, also einen zentralen, offenen Platz, zumindest im antiken Griechenland, beschrieben von Homer bis Sokrates. Die Agora war jedoch mehr als ein offener Platz. Sie war Austragungsort des Gesellschaftslebens und ein Konzept, das Stadtraum und Stadtkörper verknüpfte. Agoren waren auch keine leeren Plätze, ganz im Gegenteil. Sie waren umgeben von gut durchdachten, einfachen Gebäuden für Warentausch und zum Diskutieren, für die Gerichtsvollstreckung oder einfach, um Speisen und Getränke einzunehmen. Frauen und Sklaven durften sich auf Agoren kaum bewegen, aber ansonsten war das Konzept offen für alle.

Die antike Agora war ein anpassbares System. Platz und Gebäude erzeugten Kommunikation, boten die Infrastruktur, um Feste zu feiern, und waren dennoch ausreichend reglementiert, um diese nicht ausarten zu lassen. Agoren waren demokratische urbane Freiräume.

"Freie Bürger und Bürgerinnen dürfen sich frei bewegen, und dafür braucht es freien Raum."

Macht und Raum sind miteinander verknüpft, das zeigen aktuelle Auseinandersetzungen zwischen Stadtbenutzenden in Wien und der Polizei, die für Ordnung sorgen soll. Urbaner Freiraum ist wichtig, und dies abseits repräsentativer Parks. Je ungestalteter der Raum, desto eher wird er angeeignet. Andererseits findet, wenn gar nichts da ist, oft auch gar nichts statt. Es gilt also, einen Pendelzustand herzustellen zwischen Freihalten und Gestalten – kein leichtes Unterfangen. Freie Bürger und Bürgerinnen dürfen sich frei bewegen, und dafür braucht es freien Raum. Wo sonst, wenn nicht auf den Plätzen der Stadt, sollen sie diskutieren, feiern oder einfach nur abhängen? In digitalen Foren? Ja, auch, aber Twitter ersetzt keine Sitzstufen und Facebook keine Debatte mit Nachbarn. Revolutionen finden nicht im Netz statt, sondern auf Straßen. Und genau das passt vielen gerade nicht.

Rückzug ins Private

Architektur ist immer politisch. Sie schränkt Handlungen ein oder erweitert sie, lässt Verhandlungen des Raums zu oder nicht und fördert oder verhindert geschlechtliche Rollenzuteilungen. Öffentliche Orte eines Meinungsaustauschs sind jedoch rar geworden. Der Rückzug ins Private dominiert, und Meinungen werden eher in sozialen Netzwerken kundgetan als auf der Straße. Das Miteinandersprechen verschwindet (Schriftstellerin Marlene Streeruwitz), urbane Reibungsflächen (Soziologe Richard Sennett) sind unerwünscht, und anstelle aktiven Handelns (Philosophin Hannah Arendt) tritt angepasstes Verhalten. Ist dieses Verhalten anders als geplant, tritt schnell Panik ein. Ein fremder Körper hat meinen Körper berührt? Das darf auch ohne Corona nicht sein. Jugendliche tanzen auf dem Platz? Ist nicht vorgesehen. Sie trinken mitgebrachtes Bier? Nicht in Städten, in denen touristische Konsumation hochgehalten wird.

Très chic

In Wien entfachen sich seit Wochen Diskussionen um drei innerstädtische Orte, die noch nicht zur Gänze von Konsumation dominiert sind. Die Diskussionen laufen unterschiedlich, die Parallelität ist aber bezeichnend. Der Donaukanal war lange die letzte zentrale Freizone. In den 1990er-Jahren fanden dort auf Restflächen kleine Festivals statt. Dann folgten Sandstrände und Bars, und zwischen Franzens- und Salztorbrücke wurde alles très chic. Dass junge Leute nun die Abende am Donaukanal auch ohne Lokale verbringen, wundert nicht. Sollen sie im Stadtpark bei Johann Strauß sitzen? Oder rund um den Stephansdom?

Wer heiße Sommer in Paris kennt, weiß, wie dicht der Stadtraum entlang der Kanäle abends bevölkert ist. Dagegen ist der Donaukanal gar nichts. Okay, es ist Corona. Aber Corona demonstriert lediglich: Stadt braucht offene Räume mit frei benutzbarer Infrastruktur. Warum sollen junge Leute mit schlechtbezahlten Jobs für die Benutzung einer Toilette zahlen? Stadtraum muss kostenfrei, minimal überwacht und gut ausgestattet sein. Solchen Stadtraum bereitzustellen gehört zum Hauptgeschäft einer Stadt.

"Hey, Leute, ihr lebt in einer Großstadt."

Der Karlsplatz galt lange als hässliches Überbleibsel zwischen Straßen. Die Gestaltung ist überholt, das Drogenproblem ist latent vorhanden, und die asphaltierten Flächen eignen sich maximal zum Skaten. Nun wird der Karlsplatz allabendlich von vielen recht jungen Leuten benutzt, denen egal ist, wie er aussieht. Sie mögen Asphalt, das trübe Wasser im Becken stört sie nicht, und zwischen Spielplatz und Kirche ist ausreichend Platz für alles Mögliche. Den Anrainern ist es zu laut? Hey, Leute, ihr lebt in einer Großstadt. Große Städte sind nicht leise. Sie brauchen einen gewissen Lärmpegel, sonst wird das nichts mit dem Großstadtflair, also Stimmen, Verkehr, Musik, Vögel, Sirenen, Kirchenglocken und was auch immer. Der Karlsplatz liegt in einer Verkehrshölle, da machen sich feiernde Jugendliche nahezu lächerlich aus.

Längst disneyfizierter Naschmarkt

Der Naschmarkt ist das dritte umstrittene Wiener Areal. Er ist längst disneyfiziert, und jede Diskussion kommt eigentlich zu spät. Wäre da nicht das Hochglanz-Rendering einer Marktüberdachung, aktueller Clou der Stadtplanung. Der Naschmarkt ist verloren, nun wird das letzte wilde Stück, der Bauern- und Flohmarkt, geopfert. Gegen die Überdachung formiert sich Widerstand, und das ist gut so.

Stadt braucht keine Renderings, sondern Plätze, die Auseinandersetzung zulassen, also neue Agoren. Diesmal öffnen wir sie aber für alle Geschlechter. Wien sollte neue, leere und zugleich stimulierende Plätze bekommen, auf denen wir uns körperlich und geistig erschöpfen können. Irgendwann ist Schluss mit den Fitnessvideos daheim, dann gehen wir auf diese Plätze, wo es ausreichend Toiletten, Freiluftduschen und Trinkwasser gratis gibt, und Schatten und lange Tische für Picknicks und harten Asphalt zum Skaten und weiches Gras für die Liebe. Das wird schön werden. (Sabine Pollak, 12.6.2021)