Das Unabhängigkeitsreferendum in Frankreichs Überseegebiet Neukaledonien könnte der Corona-Pandemie zum Opfer fallen. Die Separatisten fordern jedenfalls eine Verschiebung der Abstimmung auf die zweite Hälfte des Jahres 2022 und kündigen einen Boykott an. Die Loyalisten wollen hingegen ihre Kampagne fortsetzen – Neukaledonien benötige in der Frage endlich Klarheit.

Aufruf zur Nichtteilnahme

Der Front de libération nationale kanak et socialiste (Kanakische sozialistische Front der nationalen Befreiung, FLNKS) – die wichtigste Pro-Unabhängigkeit-Partei Neukaledoniens – rief am Freitag zur Nichtteilnahme am Referendum auf. Frankreich wurde vorgeworfen, das dritte und letzte Referendum um jedem Preis durchpeitschen zu wollen.

Frankreichs Überseeminister Sébastien Lecornu war bis 18. Oktober in Vorbereitung des Referendums zu einem rund zweiwöchigen Besuch in Neukaledonien und wurde von den Separatisten aufgefordert, den Termin der entscheidenden Abstimmung zu verschieben. Diese würde nicht fair verlaufen, da der Fokus auf der Unterstützung Frankreichs in der Corona-Krise liegen werde, während die Kanak keinen Wahlkampf betreiben könnten, da die Mitglieder der Gemeinschaft um ihre Angehörigen trauern würden.

Zustimmung für Unabhängigkeit gestiegen

Das geplante Referendum ist das dritte einer im Nouméa-Abkommen von 1998 festgeschriebenen Serie von drei Abstimmungen über die Eigenstaatlichkeit des Gebiets. Die ersten beiden Referenden gingen zugunsten des Verbleibs bei Frankreich aus. Während 2018 noch 56,7 Prozent den Status quo beibehalten wollten, sank die Zustimmung 2020 auf 53,3 Prozent. Das dritte Referendum – so der Kongress eines fordert – muss gemäß dem Nouméa-Abkommen innerhalb von zwei Jahren nach dem zweiten stattfinden. Die Vertreter der Unabhängigkeitsbewegung, die nun die Verschiebung fordern, hatte im April für die Abhaltung des Referendums gestimmt.

Sicherheitskräfte eingeflogen

Für diese Abhaltung wurden bereits 250 Polizisten nach Neukaledonien eingeflogen. Insgesamt soll die Zahl der zusätzlichen Sicherheitskräfte Lecornu zufolge auf 2000 erhöht werden – allesamt vollständig gegen Covid-19 geimpft. Im Vergleich zu den Referenden 2018 und 2020 bedeutet das einen starken Anstieg, den Lecornu damit erklärte, dass es in der Demokratie kein Gefühl der Unsicherheit geben dürfe. In der Vergangenheit war es immer wieder zu schweren Ausschreitungen und Straßensperren durch die Kanak gekommen.

Lecornu hatte im vergangenen Juni den Termin des Referendums auf 12. Dezember festgesetzt, um ausreichend Abstand vor den Präsidentschaftswahlen im April 2022 zu gewährleisten. Aus Sicht des Überseeministers sei die Corona-Situation in Neukaledonien zwar angespannt, aber unter Kontrolle. Nur wenn die Epidemie außer Kontrolle gerate, sei eine Verschiebung des Referendums zu rechtfertigen.

Eine Krankenhausmitarbeiterin registriert einen Patienten in einer improvisierten Notaufnahme vor einem Krankenhaus in Dumbea.
Foto: AFP/Rouby

Rascher Anstieg der Infektionszahlen

Noch am 30. August war Neukaledonien offiziell Corona-frei, seit Beginn der Pandemie waren 135 positive Fälle verzeichnet worden, von denen praktisch alle einreisenden Personen betroffen waren. Niemand verstarb an den Folgen einer Infektion. Dennoch beschloss der Kongress in Nouméa Anfang September eine Impfpflicht – als weltweit erst viertes Gebiet nach Tadschikistan, Turkmenistan und dem Vatikan. Ab der zweiten Septemberwoche stiegen dann plötzlich die Zahlen an, und am 10. September wurde der erste mit Covid-19 in Zusammenhang stehende Todesfall gemeldet. Die Regierung unter Präsident Louis Mapou verhängte umgehend einen zweiwöchigen Lockdown, der in der Folge verlängert wurde. Frankreichs Hochkommissar Patrice Faure verfügte Mitte September eine nächtliche Ausgangssperre.

Das menschenleere Zentrum von Nouméa zu Beginn des Lockdowns am 7. September.
Foto: AFP/Rouby

Kanak überproportional betroffen

Seit 6. September wurden insgesamt 10.388 Personen positiv getestet, 252 Menschen starben. Mehr als die Hälfte der Toten handelt es sich um Kanak, rund ein weiteres Viertel sind Personen, die von Wallis und Futuna stammen.

Um schrittweise aus dem Lockdown zu kommen, wurde vergangene Woche ein Gesundheitspass für die 272.000 Einwohner des Archipels eingeführt. Nun müssen zum Beispiel Besucher von Restaurants und Museen, aber auch Flugpassagiere nachweisen, geimpft zu sein. Alternativ sind auch ein negativer Corona-Test oder ein Nachweis einer zurückliegenden Infektion möglich. Auch kleine Beherbergungsbetriebe können wieder öffnen, müssen aber den Status ihrer Gäste kontrollieren. Über den Gesundheitspass verfügen mittlerweile rund 35.000 Menschen. Geimpfte erhalten den Pass sieben Tage nach Erhalt der zweiten Dosis eine mRNA-Impfstoffes, bei anderen Impfstoffen muss 28 Tage gewartet werden.

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Schon für das vergangene Wochenende wurde jedoch neuerlich ein strenger Lockdown verhängt, der Restaurants und Geschäfte zum Schließen zwang, und auch für das kommende Wochenende wurden scharfe Maßnahmen durchgesetzt. Sogar das Fischen und Schwimmen wurde untersagt. Unter der Woche gilt eine nächtliche Ausgangssperre zwischen 22 und fünf Uhr.

Gestrichen wurden die Jahresabschlussprüfungen der Schulen. Zwar haben viele Schulen vergangene Woche nach dem Lockdown wieder geöffnet, doch viele Schüler bleiben dem Unterricht fern.

Widerstand gegen Maßnahmen

Mehrere Gruppen lehnen die Maßnahmen ab, darunter die Gewerkschaften, die sich gegen das neue Gesetz wehren, mit dem bis Jahresende Impfungen vorgeschrieben werden. Die Partei L'Éveil océanien ("Ozeanisches Erwachen", L'EO), die die Interessen der Gemeinschaft der von Wallis und Futuna abstammenden Einwohner Neukaledoniens vertritt, fordert eine Änderung der Impfpflichtgesetzes. Wenn eine hohe Impfrate erreicht wird, solle das Gesetz verworfen werden. Derzeit liegt die Impfrate bei rund 55 Prozent. Einige Häuptlinge der Kanak wiederum behaupten, zwar nicht gegen Impfungen zu sein, sehen aber eine unfaire Behandlung bei den Maßnahmen.

Mitglieder des Kouma-Stamms in Neukaledonien nach ihrer Impfung mit dem Covid-19-Impfstoff von Biontech/Pfizer.
Foto: AFP/Rouby

Flughäfen blockiert

Wegen der Einführung des Corona-Passes musste die Fluglinie Air Calédonie inner-neukaledonische Flüge bis zum Ende des Monats aussetzen. Die Flughäfen auf mehreren Inseln Neukaledoniens wurden von lokalen Kanak-Häuptlingen aus Protest gegen die Corona-Maßnahmen der neukaledonischen Regierung geschlossen. Betroffen sind die Verbindungen von der Hauptstadt Nouméa zu den Loyalitätsinseln Maré, Lifou und Ouvéa.

Foto: AFP/Rouby

Vor etwa zwei Wochen hatte Henri Dokucas Naisseline, der Häuptling der Kanak im Bezirk Gaumha auf Maré, einen Stopp der Impfkampagne für die Stämme in seinem Gebiet angeordnet, da der Impfstoff gefährlich sei. Naisseline zufolge beraubt die Impfpflicht die Menschen ihrer Grundrechte auf Freiheit und die Achtung der Menschenwürde. Die Häuptlinge sind folglich auch gegen den Gesundheitspass, der den Inhabern Vorteile gegenüber jenen bringt, die aufgrund des Fehlens einer Impfung oder eines Tests nicht über das Papier verfügen.

Im August hatte die Regierung auf den Loyalitätsinseln die Impfkampagne "Vacci'tribs" gestartet. Als Ziel wurde ausgegeben, dass bis Jänner achtzig Prozent der Einwohner geimpft sein sollen.

Tesla wird Großabnehmer für neukaledonischen Nickel

Eine der Antriebsfedern des Konflikts zwischen den Kanak und Paris ist der Umgang mit Rohstoffen. Insbesondere die reichen Nickelvorkommen stehen immer wieder im Zentrum des Streits. Die größte Nickelmine wurde in diesem Jahr vom Konzern Prony Ressources übernommen, die die Verluste schreibende Grube dem brasilianischen Vale-Konzern abkaufte.

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Die von Prony gekaufte Nickelmine in Neukaledonien soll künftig Tesla beliefern.
Foto: Reuters

Mitte Oktober meldete Prony nunmehr einen über mehrere Jahre laufenden Vertrag mit dem Elektroautohersteller Tesla. Dieser soll insgesamt rund 42.000 Tonnen Nickel kaufen – eine gewaltige Menge in Anbetracht der Tatsache, dass die für 2021 erwartete Fördermenge nur rund 22.000 Tonnen beträgt. Bis 2024 soll die Menge des produzierten Nickels jedoch auf 44.000 Tonnen verdoppelt werden. Tesla ist damit der mit Abstand größte Abnehmer von Prony. (Michael Vosatka, 22.10.2021)