Angesichts der Tatsache, dass in Europa gerade die größte kriegerische Auseinandersetzung seit 1945 droht, sind die Europäer und die Österreicher bemerkenswert gelassen. Vielleicht glauben sie, dass Wladimir Putin mit der Ukraine doch nicht ernst macht (wofür es zuletzt Hinweise gab), oder sie glauben, wie viele Österreicher, dass der russische Despot durchaus das Recht hat, über den zweitgrößten Staat Europas zu befinden.

Daran stimmt nur eines: Putin hat eine "Obsession" bezüglich der Ukraine, wie ein jahrzehntelanger österreichischer Russlandkenner formuliert. In seinem Denken kann es eine unabhängige Ukraine, die sich allmählich nach westlichen Maßstäben orientiert, nicht geben. Schon im vergangenen Sommer hat Putin das in einem großen Aufsatz "Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer" pseudohistorisch zu begründen versucht.

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Der russische Präsident Wladimir Putin.
Foto: AP/Mikhail Klimentyev

Dazu kommt, dass die Ukraine eine der schwersten politischen Niederlagen Putins darstellt. 2014 vertrieb ein Volksaufstand den moskauhörigen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch – weil er einen bereits beschlossenen Assoziierungsvertrag mit der EU torpedierte. Prompt zettelte Putin den Aufstand im Donbass an und annektierte die Krim. Die Ukraine darf kein normaler europäischer Staat sein. Die größere Frage im Hintergrund ist aber, ob Russland ein solcher normaler europäischer Staat sein will und kann.

Sicherheitsinteressen

Ein normaler europäischer Staat wahrt seine Sicherheitsinteressen, aber führt möglichst nicht Kolonialkriege an seiner Peripherie (Tschetschenien, Georgien, Donbass). Ein normaler europäischer Staat setzt alle Anstrengungen darein, den Lebensstandard seiner Bevölkerung auf den der europäischen Nachbarn zu bringen und technologisch aufzuholen, statt einen verdeckten Desinformations-und Spaltungskrieg gegen die EU zu führen. Ein normaler europäischer Staat versucht, wichtige Staaten in der Nachbarschaft freundschaftlich und in einer Interessengemeinschaft zu binden, statt sie mit Gewalt zu halten. Ein normaler europäischer Staat gibt seinen Bürgerinnen und Bürgern Rechtssicherheit und demokratisch abwählbare Regierungen statt einer engen Herrschaft von Ex-KGBlern und Oligarchen, die sich die Reichtümer des Landes unter den Nagel gerissen haben. Ein normaler europäischer Staat von dieser Riesengröße wie Russland bringt mehr zusammen als gerade das dreieinhalbfache BIP des kleinen Österreich.

Die Nato ist keine Bedrohung für Russland, die Ukraine wird der Nato nie und der EU vielleicht in sehr langer Zeit beitreten. "Bedroht ist Putin, nicht Russland", schreibt die NZZ. Dann nämlich, wenn die Ukraine ein normaler europäischer Staat wird und die Russen zu vergleichen beginnen.

Seit den Zaren gingen Unfähigkeit zur Reform im Inneren mit aggressivem "Empire-Building" nach außen einher. Genau diese Geschichte war es, die die Osteuropäer und die Balten in die Nato fliehen ließen.

In Russland ist eine Mittelschicht entstanden, die Mitsprache will. Ihre politischen Vertreter werden ermordet oder kommen ins Lager. Vielleicht entsteht da trotzdem einmal etwas. Inzwischen müssen die Europäer die trotz allem existierenden gemeinsamen Interessen mit Russland im Auge behalten, aber realistisch und wachsam bleiben. (Hans Rauscher, 16.2.2022)