Wolle man Wladimir Putin verstehen, sollte man die Aufmerksamkeit auf das Selbstverständnis der Tschekisten richten, schreibt der Soziologe Christian Fleck in seinem Gastkommentar.

In den vergangenen Monaten stellten sich verschiedene Kommentatoren die Frage, was denn im Kopf Wladimir Putins vorgehe. Die gegebenen Antworten überzeugen wenig. Sie nennen persönliche Merkmale oder spekulieren über geopolitische Ambitionen: Er sei verrückt, sagen die einen, er wolle das Zaren- oder das Sowjetreich restaurieren, die anderen. Manchen gilt er als Capo di tutti i Capi einer kriminellen Vereinigung, der es um die Anhäufung von Reichtum und die Absicherung der Möglichkeiten, dies weiterhin zu tun, gehe.

Seit der Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, wird mehr denn je über sein Wesen, seinen Antrieb spekuliert: Russlands Präsident Putin.
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Einem Staatspräsidenten zu unterstellen, er sei Haupt einer Gangsterbande, steht im Widerspruch zum guten Ton, der sich zwischen Staaten seit dem Aufkommen professioneller Diplomatie eingebürgert hat. Allerdings verlangt dieses manierliche Verhalten nach Wechselseitigkeit; setzt man den diplomatisch modulierten Diskurs auch gegenüber jenen fort, die eine andere Sprache sprechen, ist einem die schlechte Nachrede der Nachgeborenen garantiert. Putin wurde vom Westen lange, allzu lange höflich behandelt. Die vorgeblichen Putin-Versteher haben, wie man jetzt überdeutlich sieht, allerdings ziemlich wenig verstanden.

"Nach allem, was man über diesen Arbeitgeber weiß, funktioniert er als profaner Orden: Wer einmal eingetreten ist, verlässt ihn nie mehr."

Was man an der Politik Putins verstehen kann, eröffnet sich, wenn man einen Blick auf das Milieu wirft, in welchem dieser Mann so ziemlich alles erlernte, ehe er die Bühne der großen Politik betrat. Ob er schon während seines Studiums im damaligen Leningrad vom KGB rekrutiert wurde oder diesem erst nach dem Studienabschluss 1975 beitrat, verrät seine "Autobiografie", die er am Beginn seiner Präsidentschaft diktierte, nicht.

Nach allem, was man über diesen Arbeitgeber weiß, funktioniert er als profaner Orden: Wer einmal eingetreten ist, verlässt ihn nie mehr. Über sich selber sprechen seine Mitglieder gerne als "Tschekisten". Der Name verweist auf die Organisation, die seit Dezember 1917 mit der Eliminierung der Opposition beauftragt war: die "Allrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage", abgekürzt Tscheka. Der Organisationsname wurde mehrfach gewechselt; immer dann, wenn eine Fassadenrenovierung anstand, wechselte man zu OGPU, NKWD, MGB, KBG und letztlich FSB.

An die "Genossen Offiziere"

Die Unternehmenskultur blieb unverändert, emblematisch kommt das darin zum Ausdruck, dass diese Truppe sich ein eigenes Lied gab und in Russland einen eigenen Feiertag zugesprochen erhielt. Das Tschekistenlied (oder: Kundschafterlied) wurde von keinem Geringeren als Markus Wolf, dem langjährigen Chef des DDR-Auslandsgeheimdiensts, ins Deutsche übersetzt. Darin heißt es unter anderem:

"Euer Dienst ist die Aufklärung, Namen bleiben geheim … Stets im Blickfeld der Feind … Selbst beim Lachen und Fröhlichsein bleibt die Sehnsucht sehr groß nach den Lieben zu Haus’ – vielleicht einem Jungen. … Jeder dieser Soldaten kämpft am Frontabschnitt allein, und doch lernt jeder einzelne Kraft der vielen zu erkennen. … Wachsam sein, immerzu – wachsam sein! … Auch in friedlicher Zeit – wachsam sein! … Tschekisten, Beschützer des Friedens der Menschen, Soldaten der unsichtbaren Front."

Am 20. Dezember begehen in Russland die Angehörigen der Sicherheitsdienste ihren professionellen Festtag, den Tschekistentag. Auch im vergangenen Jahr legte Putin am Denkmal der Tschekisten Blumen nieder und richtete Worte an seine "Genossen Offiziere": "Freunde, Sie wissen, dass sowohl der Staat als auch unser Volk alles Notwendige tun, damit Sie Ihre produktive Arbeit leisten können und die Sonderorganisationen technisch, operativ und personell weiter gestärkt werden. Und dieses Potenzial muss in vollem Umfang genutzt werden, um alle Ziele, die Sie sich gesetzt haben, effizient zu verwirklichen."

Von Partei und Staat emanzipiert

Will man Putin und seine Entourage verstehen, sollte man die Aufmerksamkeit auf das Selbstverständnis der Tschekisten richten. Ihnen ging es um die Ausschaltung aller Gegner, und wer als solcher zu behandeln war, bestimmte anfangs die bolschewistische Partei. In späteren Zeiten scheinen sich die Tschekisten immer mehr von Partei und Staat emanzipiert zu haben. Man wird nicht fehlgehen anzunehmen, dass in den Jahren des Niedergangs und Zerfalls der Sowjetunion die Tschekisten Vorbereitungen unternahmen, um dereinst nicht mittel- und einflusslos dazustehen. Dieses Netzwerk hat sich die Russische Föderation unter den Nagel gerissen. Verfolgte man früher einmal die Feinde der Arbeiterklasse, später die Kosmopoliten und dann die Dissidenten, so zielt man nun auf all jene, die die Herrschaft der Putin-Clique gefährden könnten. In alter Tschekisten-Tradition scheut man weder vor Lügen noch Mord zurück.

Den Überfall auf das Nachbarland Ukraine kann man als Ausdruck gesteigerter Furcht vor der Ausweitung demokratischer Bewegungen auf das eigene Land interpretieren. Je länger der Widerstand der Ukrainer dauert, desto schwächer wird Putin. Es entspräche ganz der Tradition der Tscheka, wenn ihr schwankender Führer von den eigenen Leuten abserviert würde. In der Vergangenheit folgte darauf allerdings nie ein grundlegender Systemwechsel. (Christian Fleck, 16.3.2022)