Ein LNG-Terminal in Polen. Die EU-Staaten wollen unter anderem die Einfuhren von Flüssiggas steigern, um sich aus der Abhängigkeit von russischem Gas zu befreien.

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Moskau/Kiew – Die Ziele der EU, ihre Erdgasimporte aus Russland zu kürzen und zugleich die Speicher bis zum Winter deutlich aufzufüllen, lassen sich nur durch wochenlangen Gasverzicht in Europas Industrie erreichen. Ein Berechnungsmodell des Forschungszentrums Jülich zeige, dass europaweit mehr als 300 Terawattstunden Erdgas (rund 30 Millionen Kubikmeter) in diesem Jahr eingespart werden müssten, um einen Anfang März vorgelegten EU-Plan zu erfüllen, berichtet der "Spiegel".

EU-Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans hatte erklärt, dass die EU-Mitgliedstaaten bis Jahresende auf zwei Drittel ihrer Gaslieferungen aus Russland verzichten und diese aus anderen Quellen ersetzen könnten. Zugleich sollen die Staaten ihre Speicher bis zum November auf mindestens 80 Prozent der Maximalkapazität befüllen – um notfalls auch ohne russisches Gas über den nächsten Winter zu kommen.

Nur mit Abriegelung der Industrie möglich

Beide Ziele zugleich lassen sich laut den Modellberechnungen des Jülicher Instituts für Techno-ökonomische Systemanalyse nur mit erheblichen Abriegelungen der Industrie verwirklichen, wie der "Spiegel" weiter berichtete. Demzufolge müsste sämtlichen Stahlhütten, Chemiefabriken oder Zementwerken in der EU von jetzt an bis Ende Juli das Gas abgedreht werden – und dazu den Gaskraftwerken fast den gesamten Juli lang.

Nur so ließe sich das Zwischenziel der EU erreichen, die Speicher bis zum 1. August zu 63 Prozent zu füllen, ergaben laut "Spiegel" die Modellberechnungen. Im Oktober wären demnach weitere Kappungen für die Industrie notwendig, um den 80-Prozent-Pegel bis zum 1. November zu erreichen. All dies gelte selbst unter der optimistischen Annahme, dass sich die Einfuhren von Flüssigerdgas (LNG) und Pipelinegas aus anderen Staaten noch einmal deutlich steigern ließen.

"Wenn die Speicher entsprechend der geplanten Vorgaben aufgefüllt und zugleich die Lieferungen aus Russland derart stark gekürzt werden sollen, geht das nur mit deutlichen Einschränkungen für die Industrie und die Kraftwerke", sagte Jochen Linßen, Professor am Forschungszentrum Jülich, dem "Spiegel".

Industrievertreter uneinig zu Vorrang von Privathaushalten

Der deutsche Notfallplan Gas sieht vor, dass Kunden wie Privathaushalte oder soziale Dienste wie Krankenhäuser vorrangig versorgt werden müssen. Einsparen ließe sich also nur bei den Unternehmen, die Gas für ihre Produktion oder als Brennstoff für Kraftwerke benötigen.

Wirtschaftsvertreter fordern hingegen, notfalls private Endverbraucher abzuschalten. Eon-Aufsichtsratschef Karl-Ludwig Kley etwa verlangt, dass die Industrie vorrangig versorgt werden müsse. Abgelehnt haben diese Forderung allerdings bereits der Präsident der deutschen Bundesnetzagentur Klaus Müller sowie der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Michael Hüther. "Ich verstehe das Anliegen, die Industrie so lange wie möglich mit Gas zu versorgen. Doch es steht nicht nur im Gesetz, dass die privaten Haushalte geschützte Kunden sind. Eine Abschaltung der Haushalte wäre auch mit Sicherheitsfragen verbunden", sagte Hüther der "Rheinischen Post". (APA, red, 30.4.2022)