Im Gastkommentar zur Pazifismusdebatte erinnert der Theologe und Ethiker Kurt Remele an die katholische Friedensethik.

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Waffenlieferungen an die Ukraine? Diese Frage wird in offenen Briefen debattiert. Adressat ist der deutsche Kanzler Scholz.
Foto: Reuters / Lisi Niesner

Donnerstagmorgen habe ich ein Buch durchgeblättert, das ich knapp vierzig Jahre lang nicht in den Händen gehalten hatte: Jonathan Schells Das Schicksal der Erde. Gefahr und Folgen eines Atomkriegs. Ich stieß dabei auf eine Textstelle, die ich mir einst dick angestrichen hatte: "Bei einem atomaren Großangriff gegen die Vereinigten Staaten würde die natürliche Umwelt derart verwüstet (…), dass die USA nur noch ein Staat der Gräser und Insekten wären."

Ein russischer Großangriff mit strategischen Nuklearwaffen könnte auch Deutschland in ein Land der Gräser und Insekten verwandeln. Unter anderem deshalb forderten 28 deutsche Prominente um Alice Schwarzer ihren Bundeskanzler in einem offenen Brief auf, keine schweren Waffen, die zur "Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt" führen könnten, an die Ukraine zu liefern.

Massive Ablehnung

Die Unterzeichnenden weisen darauf hin, dass das Recht auf militärische Gegenwehr gegenüber "aggressiver Gewalt" seine ethische Grenze dort erreiche, wo das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der Zivilbevölkerung ins Unermessliche steigt. Bundeskanzler Olaf Scholz wird aufgefordert, "alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand" in der Ukraine komme und "zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können".

Kontra Waffenlieferungen
"Wir teilen (...) die Überzeugung, dass es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht gibt, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen. Doch alles, was sich daraus ableiten lässt, hat Grenzen (...)." Aus dem offenen Brief in der "Emma".

Pro Waffenlieferungen
"Es gibt gute Gründe, eine direkte militärische Konfrontation mit Russland zu vermeiden. Das kann und darf aber nicht bedeuten, dass die Verteidigung der Unabhängigkeit und Freiheit der Ukraine nicht unsere Sache sei." Aus dem offenen Brief in der "Zeit".

Einerseits werden der offene Brief, seine Argumente und Forderungen von vielen Menschen massiv abgelehnt. Sogar ein Gegenbrief an Scholz wurde veröffentlicht, in dem kontinuierliche Waffenlieferungen gefordert werden. Anderseits haben bisher mehr als 220.000 Personen den Emma-Brief unterschrieben. Was jedoch noch nicht thematisiert wurde: Der offene Brief gegen die Lieferung schwerer Waffen stimmt in weiten Teilen mit der katholischen Friedens- und Kriegsethik überein, die unter anderem im Katechismus der katholischen Kirche, den Papst Johannes Paul II. im Jahre 1992 approbierte, dargelegt ist. In Anlehnung an das Märchen: Der katholische Katechismus-Igel war schon vor Jahrzehnten dort, wo der Emma-Hase seit Ende letzter Woche sitzt.

Sorgfältige Abwägung

Die Paragrafen 2302 bis 2330 des Katechismus präsentieren die offizielle Lehre der römisch-katholischen Kirche zur "Aufrechterhaltung des Friedens". Mit Verweis auf das Zweite Vatikanische Konzil wird festgehalten, dass jeder Bürger und jeder Regierende verpflichtet sei, sich für die Vermeidung von Kriegen einzusetzen. Der Katechismus spricht jedoch einer Regierung für den Fall, dass alle Möglichkeiten einer friedlichen Lösung vergebens waren, "das Recht auf sittlich erlaubte Verteidigung" nicht ab.

Dieses Recht gelte freilich nicht uneingeschränkt, sondern unterliege dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: "Der Gebrauch von Waffen darf nicht Schäden und Wirren mit sich bringen, die schlimmer sind als das zu beseitigende Übel. Beim Urteil darüber, ob diese Bedingung erfüllt ist, ist sorgfältig auf die gewaltige Zerstörungskraft der modernen Waffen zu achten." Dieser Satz hätte zweifellos gut in den Emma-Brief an Scholz gepasst.

Kirchliche Tradition

Sogar die Befürworter von Lieferungen schwerer Waffen werden zugeben müssen, dass ein Hinweis auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel sinnvoll ist. Soweit ich weiß, fordern sie nicht, einsatzbereite Atomwaffen in die Ukraine zu verfrachten. Die wahrscheinlichen Folgen sprechen eindeutig dagegen. Darauf hinzuweisen, dass auch die Aufrüstung der Ukraine mit einer stark steigenden Anzahl schwerer westlicher Waffen zu einer nicht mehr kontrollierbaren kriegerischen Eskalation führen könnte, ist zweifellos höchst rational. Deshalb im Sinne einer im Fachjargon als "Tutiorismus" bezeichneten ethischen Haltung die Unterstützung weniger riskanter Widerstandsformen zu bevorzugen ebenfalls.

In ihrem vielbeachteten Pastoralschreiben Die Herausforderung des Friedens von 1983 betonten die katholischen Bischöfe der USA, dass das Eintreten für gewaltfreie Konfliktlösungen eine wertvolle kirchliche Tradition darstelle. Pazifismus solle nicht vorschnell als "untauglich und unrealistisch" abgetan werden. Sie erwähnten den dänischen und norwegischen Widerstand gegen die Nazis. Und sie verwiesen auf ein Standardwerk des gewaltlosen Widerstands und der sozialen Verteidigung: Gene Sharps The Politics of Nonviolent Action, in dem 198 Methoden gewaltfreien Vorgehens gegen Diktatoren ausführlich dargestellt werden.

Ich maße mir keinesfalls an, den Menschen in der Ukraine die Lektüre von Sharps Buch zu empfehlen. Doch einige Ukrainerinnen und Ukrainer werden es wahrscheinlich kennen: jene, die jeden Kriegsdienst ablehnen und gewaltfreien zivilen Widerstand praktizieren. (Kurt Remele, 6.5.2022)