Wenn der Spaß am Strand von Karachi, Pakistan, vorbei ist, geht es wieder an die Futtersuche in der 15-Millionen-Stadt. Wollen die Hunde gut über die Runden kommen, müssen sie sich vieles von Artgenossen abschauen.

Foto: EPA / Shahzaib Akber

Sitz! Platz! Nein! – Damit das enge Zusammenleben zwischen Menschen und Hunden funktionieren kann, braucht es Regeln, diesbezüglich dürften die meisten Hundebesitzerinnen und Hundebesitzer übereinstimmen. Welche Regeln das sein sollen, ob und wie diese durchgesetzt werden – darüber herrscht geradezu monumentale Uneinigkeit. Selbst Expertinnen und Hundeerzieher von Berufs wegen haben auf diese Fragen oft völlig unterschiedliche Antworten – eine entsprechende Hundeschulenweisheit lautet denn auch: "Vier Hundetrainer, fünf Meinungen."

Kaum erforschtes Feld

Leben Hunde nur mit anderen Hunden zusammen, gibt es ebenfalls Regeln, allerdings sehen die Rahmenbedingungen dabei völlig anders aus. Für Verhaltensforscherinnen und -forscher ein äußerst spannendes, teilweise noch kaum beackertes Feld: Wie verhalten sich Hunde untereinander, wenn ihnen kein Mensch dreinredet? Welche Strategien entwickeln etwa ausgesetzte Straßenhunde, um mit einem unberechenbaren Leben ohne Frauchen oder Herrchen zurechtzukommen, wenn kein Futter täglich zur selben Zeit am selben Ort serviert wird und Durst ein häufiger Begleiter ist?

Ein abwechslungsreicher, sich laufend verändernder Lebensraum setzt die Tiere vielen Gefahren aus. Erfahrung hilft daher, um gut über die Runden zu kommen. Fehlt einem diese noch, gibt es eine andere energiesparende Möglichkeit, sich dennoch schnell an Veränderungen anzupassen: das Lernen vom Verhalten der Artgenossen.

Gefährliche Irrtümer

Ein Team um Giulia Cimarelli von der Veterinärmedizinischen Universität Wien hat sich vorgenommen, freilebenden Hunden gleichsam beim Lernen zuzuschauen.

Die komplexe Sozialstruktur unter den Streunern – möglicherweise auch die Folge einer ebensolchen Umgebung – liefere ein perfektes Modell für die Untersuchung ihrer sozialen Lernstrategien, sagen Cimarelli und ihre Kolleginnen Sarah Marshall und Friederike Range vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung. Und strategisch müssen die Hunde tatsächlich vorgehen, mit wahllosem Abschauen vom Nachbarn ist es nicht getan.

Streuner rasten im Schatten – mit Blick auf einige Hochhäuser von Mumbai, Indien.
Foto: APA/AFP/PUNIT PARANJPE

Immerhin können Artgenossen auch einmal daneben liegen. Das Beispiel, das sie anderen Hunden abgeben, könnte ein Irrweg sein, vielleicht sogar ein gefährlicher. Um Derartiges zu vermeiden, haben die Tiere eine ganze Vielfalt an Lerntaktiken entwickelt, die sie je nach Situation einsetzen, um letztlich zu entscheiden, wann, was und von wem sie etwas lernen sollen.

Das zumindest lässt sich aus bisherigen Studien schließen, die sich mit den sozialen Lernfähigkeiten von Haushunden auseinandersetzen, meinen Cimarelli und ihr Team. "Auf diesen Grundlagen gehen wir davon aus, dass freilebende Hunde soziales Lernen insgesamt recht flexibel handhaben, um sich an die gegebenen Umstände anzupassen."

Wechselnde Vorbilder

Konkret vermuten die Forscherinnen, dass sich die Hunde innerhalb einer Gruppe jeweils "sachkundigere" Vorbilder suchen – eine Verhaltensweise, die die Verbreitungswege von neuen Kenntnissen, etwa bei der Futterbeschaffung, entscheidend beeinflusst. Dabei spielt vor allem die Qualität der Beziehungen der Individuen untereinander eine wichtige Rolle sowie die Komplexität der Aufgaben, denen sich die Hunde gegenübersehen.

Es ist das erste Forschungsprojekt, das sich ausschließlich dem sozialen Lernen freilebender Hunden widmet. Um zwischen individuellem und sozialem Lernen unterscheiden zu können, greifen die Wissenschafterinnen auf statistische Methoden zurück, die wiederum auf Daten zur sozialen Dynamik von Hunden basieren. Die Forscherinnen versuchen für ihre Studie Umweltfaktoren ebenso einzubeziehen wie die soziale Dynamik der einzelnen Hunde untereinander.

Auch Sightseeing im eigenen Land darf einmal sein: Diese beiden spazieren am Gateway of India (links) vorbei, einem von Mumbais wichtigsten Wahrzeichen.
Foto: APA/AFP/PUNIT PARANJPE

Vor allem das charakteristische Vorgehen freilebender Hunde bei der Nahrungssuche liefert hier wichtige Ansatzpunkte: Es ermöglicht den Forscherinnen, soziale Lernstrategien bei verschiedenen Aufgaben zu untersuchen, die mit der Nahrungssuche zusammenhängen. Auch Jungtiere werden bei den Studien eine Rolle spielen, so die Wissenschafterinnen. Sie sollen demonstrieren, ob und wie sie als Neuzugang einer Gruppe Verhaltensstrategien anderer Hunde übernehmen würden, etwa wenn ihnen eine Reihe neuartiger Futtersuchaufgaben präsentiert werden.

Mehrere Wege

Für diese Ergebnisse wollen Cimarelli und ihr Team unterschiedliche Wege beschreiten: Sowohl Beobachtungen als auch Feldexperimente und sogenannte offene Diffusionsexperimente stehen auf dem Plan. Bei Letzteren wird gewissermaßen eine neue Verhaltensweise in ein Hunderudel eingeschmuggelt, um zu sehen, welche der Tiere sie von wem übernehmen. Die neuen Ergebnisse werden insgesamt eine entscheidende Wissenslücke über das Lernverhalten von Hunden schließen, sind die Wissenschafterinnen überzeugt. (Thomas Bergmayr, 5.6.2022)