Ivan Krastev, geboren in Bulgarien, hat sich in den vergangenen Jahren als führender Politologe und Osteuropa-Experte etabliert. Zu seinen Themen gehören auch der Trend zu autoritären Herrschaftsformen und die Gefahren für die liberale Demokratie. Dieser Tage trat er beim Europäischen Forum in Alpbach auf.

STANDARD: Die einfachste Frage zuerst. Wie wird das alles enden? Wie wird der Wirtschaftskrieg zwischen der EU und Russland ausgehen?

Krastev: Diese Konflikte wie in der Ukraine enden meist nicht mit Frieden. Sie brodeln irgendwie weiter. So wie zwischen Armenien und Aserbaidschan oder Serbien und dem Kosovo. Wir müssen uns auf einen langen Konflikt vorbereiten, was nicht heißt, dass die Kämpfe in derselben Intensität weitergehen; und der andere Krieg, der Wirtschaftskrieg, wird auch nicht über Nacht enden. Was die EU und Russland betrifft: Wir werden sehr viel politische und ökonomische Entkoppelung sehen. Meiner Meinung nach sind die nächsten sechs bis neun Monate die Periode maximaler Verwundbarkeit auf europäischer Seite. Unsere Gasabhängigkeit wird schwere Folgen bei der Inflation haben, bei den Energiepreisen. Das wird politische Folgen bei uns haben. Daher ist das der Moment, wo die Russen glauben, sie könnten uns brechen.

Straßenbild in St. Petersburg: "Die Mehrheit in Russland unterstützt Putins Krieg. Aber der Mittelstand wird sehen, dass er ihnen nichts zu bieten hat außer Konflikt", sagt Ivan Krastev.
Foto: Anton Vaganov

STANDARD: Sie verwenden in dem Zusammenhang oft das Wort "Resilienz" – innere Widerstandskraft. Wir müssen einfach durchhalten?

Krastev: Als wir mit den Sanktionen begannen, glaubten viele, dass wir die Russen sofort brechen würden und dass sie den Krieg beenden müssten. Das habe ich nie geglaubt. Das war in der Geschichte nie so. Sanktionen haben zwei total verschiedene Bedeutungen. Die eine ist, du zermürbst die Wirtschaft der anderen Seite, aber das braucht Zeit; die andere ist: Du sagst der anderen Seite, dass dieser Krieg für dich wichtig ist und du bereit bist, die Kosten zu tragen.

STANDARD: Daher muss Europa zu Putin sagen: Vergiss alles, was du über unsere scheinbare Schwäche glaubst, wir halten das aus?

Krastev: Genau. Jeder Krieg ist ein Test des Willens. Putin glaubt, dass der Westen im Abstieg ist, dass wir keine Opfer bringen können, weil wir selbstsüchtig sind usw. Daher müssen wir ihm zeigen, dass er falschliegt. Das ist nicht leicht, denn wir haben unsere eigene politische Situation zu berücksichtigen. Leute bei uns werden leiden. Vor allem aber müssen wir erkennen, dass die Welt, die wir kennen, verschwunden ist. Das gilt auch für Russland.

STANDARD: In Italien kommen vielleicht die russenfreundlichen Postfaschisten ans Ruder. Andere zweifeln die Sanktionen an.

Krastev: Es ist nicht leicht, weil wir in den letzten Jahren durch viele Krisen gegangen sind, beginnend mit der Finanzkrise 2008. Wir überleben immer eine Krise nach der anderen. Eines kommt dazu: Der Krieg in der Ukraine betrifft nicht nur die Ukraine, sondern die EU direkt. Die Polen glauben, dass sie als Nächste dran sind. Die baltischen Staaten auch. Natürlich wird dieser Krieg in Polen anders empfunden als in Spanien, aber er betrifft alle. Daher ist es schwierig, die Sanktionen einfach aufzuheben. Und selbst wenn in Europa die Sanktionen aufgehoben werden, dann werden die USA das nicht tun.

Osteuropa-Experte Ivan Krastev: "Wir kennen Russland nicht gut genug."
Foto: Imago / Manfred Segerer

STANDARD: Noch einmal, was sollen die Regierungen tun?

Krastev: Sie sollen, das klingt jetzt komisch, ehrlich sein. Sagen, dass wir vor harten Zeiten stehen. Aber sehr wichtig ist es, den Leuten einen Zeithorizont zu geben. Wir sollten ihnen auch sagen, was ist eine Niederlage und was ist ein Sieg. Ohne es überverkaufen zu wollen. Wenn sie den Leuten sagen: Im April sind wir wieder dort, wo wir jetzt sind, ohne eine tiefe Rezession, und dann sind wir in einer viel stärkeren Position. Aber das Schwierigste ist, den Leuten zu sagen: Die Welt, die wir bisher hatten, existiert nicht mehr. Wir können nicht mehr zurückgehen. Wir sollten an die Zukunft denken. Wir sind vom russischen Gas und Öl abgeschnitten, wir müssen uns auf die Ressourcen in unserem Land besinnen. Bisher hat jeder nur von Solar Power geredet, aber jetzt kommt es darauf an. Und noch etwas: Bisher war Globalisierung das Thema. Aber die Welt deglobalisiert sich gerade. Wir merken, dass wir uns auf manche Player nicht verlassen können.

STANDARD: Sie sprechen von einem historischen Moment. Von einem Wendepunkt. Wir müssen uns also anpassen?

Krastev: Am Beginn der Covid-Krise war jeder schockiert, dass er nicht mehr ins Büro gehen konnte. Jetzt ist es das Problem, die Leute ins Büro zurückzubringen. Wir leben in der Furcht, dass diese Veränderung unser Leben schlechter macht. Das muss nicht sein.

STANDARD: Konzentrieren wir uns auf das Rätsel Russland.

Krastev: Wir haben wahrscheinlich Russland nicht gut genug gekannt. Wir wussten nicht, was die historischen Bezüge sind, auf die sich Putin und andere berufen. Jemand hat einen russischen Intellektuellen gefragt, wer die engsten Berater von Putin sind. Die Antwort war: "Katharina die Große, Peter der Große und Iwan der Schreckliche". Die russische Führung lebt in dieser Form von Geschichte und versucht, sie anderen aufzuzwingen. Daher müssen wir uns mit diesen Mentalitäten auseinandersetzen.

STANDARD: Was ist mit einem Land, das so aus der Zeit gefallen ist?

Krastev: Die Entscheidung zum Krieg war Putins Entscheidung. Sogar Teile der russischen Eliten wussten nichts, vor allem die finanzielle Elite. Gleichzeitig unterstützt die Mehrheit der Russen diesen Krieg. Aber es gibt inzwischen eine Mittelklasse in Russland. Sie leben nicht schlecht – aber jetzt ist plötzlich alles anders, sie können nicht mehr frei reisen usw. Die russische Mittelklasse wird sehen, was Putin ihnen zu bieten hat: permanenten Konflikt. Putins Behauptung, dass die Russen und die Ukrainer dasselbe Volk sind, wurde in der ersten Minute des Krieges zerstört. Das Land wird jetzt von der Identität eines einzigen Mannes definiert. Leute, die Putin unterstützen, wissen nicht, was ist, wenn er nicht mehr da ist, und Leute, die in Opposition zu ihm stehen, wissen das auch nicht. Sein engster Berater, der frühere Chef des Präsidentenbüros, machte eine vollkommen selbstzerstörerische Aussage, indem er sagte: Ohne Putin gibt es kein Russland.

STANDARD: Wird Russland immer so bleiben?

Krastev: In den 1990er-Jahren gab es die Illusion, Russland könnte so werden wie wir. Aber Russland kann nicht wie Österreich werden. Es ist eine total unterschiedliche Kultur, ein unterschiedlicher Raum, eine unterschiedliche Volkswirtschaft. Es bedeutet aber nicht, dass Russland immer mit dem Westen in einem Konflikt sein muss. Daher sollten wir sehr vorsichtig damit sein, alles zu dämonisieren, was von Russland kommt. Wir müssen einen Unterschied machen zwischen den verschiedenen Russlands. Wir müssen uns mehr für Nuancen interessieren. Unglücklicherweise bringt der Krieg Nuancen um. Die Zukunft unserer Beziehungen zu Russland basiert auf unserer Fähigkeit, Nuancen zu sehen.

STANDARD: Wir müssen wirkliche Russland-Versteher werden?

Krastev: Viele haben sich geirrt in der Beurteilung Russlands. Viele in Deutschland und Österreich dachten, wenn wir genug Handelsbeziehungen haben, wenn die Russen wohlhabend werden, sind sie nicht an einem Krieg interessiert. Andere sagten, Russland ist eine imperiale Macht, die immer Krieg führen muss. Aber wenn wir etwas ändern wollen, dann müssen wir uns wirklich für Russland interessieren. Es wird ein langer Konflikt, und Russland wird nicht verschwinden. Wir müssen besser verstehen, was in der russischen Gesellschaft geschieht. Natürlich sind sie jetzt wütend auf uns. Aber dann sehen sie das eigene Regime, das ihnen nichts bietet.

STANDARD: Sollen wir Visa verweigern?

Krastev: Wenn wir ihnen jetzt keine Visa geben, unterstützen wir die russische Propaganda. Aber wir können entscheiden, wem wir Visa geben. Seien wir selektiv, achten wir auf Nuancen. Und, um an den Anfang zurückzukehren: Wir müssen auf die Entkoppelung von Russland achten. Aber Entkoppelung darf nicht die gesamte Zukunft sein. Russland wendet sich China zu? Ich habe keinen Russen getroffen, der chinesisch sein möchte. Aber ich kenne sehr viele, die Teil Europas sein wollen. (INTERVIEW: Hans Rauscher, 3.9.2022)