Im Gastkommentar zieht der SPÖ-Nationalratsabgeordnete Max Lercher Parallelen zum Jahr 1970. Auch heute würden wir an einer Zeitenwende stehen.

"Der große französische Demokrat Herriot hat einmal den weisen Ausspruch getan, dass die Demokratie nur gefestigt werden kann, indem man sie ununterbrochen in Bewegung hält."

Dieses Zitat stammt aus Bruno Kreiskys erster Regierungserklärung im Nationalrat, wo er am 27. April 1970 das Programm der SPÖ-Minderheitsregierung präsentiert hat. Diese Rede von Kreisky und dieser Satz von Herriot sind heute wieder von außerordentlicher Aktualität und Bedeutung.

Kreisky hat sich 1970 in einer durchaus vergleichbaren Situation wiedergefunden wie wir heute. Er sah sich auf bundespolitischer Ebene einer ÖVP gegenüber, mit der es nicht mehr möglich war, richtige Antworten auf die vielen unbeantworteten Fragen in unserer Republik zu finden. Einer ÖVP, die leidenschaftlich jeden Versuch hintertrieben und blockiert hat, Österreich gerechter, besser und stärker zu machen. Einer ÖVP, die keine Bewegung à la Herriot wollte, sondern Stillstand zugunsten der Besitzenden und der eigenen Funktionäre.

Kreisky ist damals aus dieser misslichen Lage ausgebrochen, indem er der Sozialdemokratie zum ersten Mal in der Republiksgeschichte den Weg für neue Mehrheiten geebnet hat. Er ist damit im bürgerlichen Lager und teilweise auch innerparteilich auf erbitterten Widerstand gestoßen. Aber er ließ sich davon nicht beirren und hat eine neue Ära in Österreich eingeleitet.

Neue Ära

Unsere Republik ist heute eine andere als in den 1970ern. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft haben sich in mehreren Entwicklungsschüben massiv verändert. Aber eine entscheidende Parallele zu damals ist: Die ÖVP muss unserem Land zuliebe aus der Bundesregierung entlassen werden.

Sebastian Kurz hat ein sehr großes politisches Talent. So ehrlich muss man sein. Aber er hat seine Chance nicht genutzt und moralisch wie politisch kläglich versagt. So ehrlich muss man auch sein. Und das ist kein Grund für Häme, aber ein klarer Auftrag für eine Regierung ohne die schwarz-türkise ÖVP. Kurz' Partei soll nun die Hände von den Regierungsgeschäften in unserer Republik lassen. Mit diesen Händen ist kein ehrliches Arbeiten für Österreich mehr möglich. Wir können es uns als Gesellschaft in unserer aktuellen Situation einfach nicht mehr leisten, dass eine korrupte Lobby für Markt, Kapital und Oberschicht in der nächsten Bundesregierung vertreten ist.

Falscher Liberalismus

Wir stehen heute an einer Zeitenwende: Ereignisse wie die digitale Revolution, eine zutiefst undemokratische Macht- und Kapitalkonzentration bei wenigen multinationalen Konzernen, ein sich stetig verschärfender Klimawandel, zunehmende Migrationsbewegungen sowie geopolitische und geoökonomische Krisen haben einen Veränderungsdruck ausgelöst, dessen Dynamik mit den Spielregeln des "liberalen Marktes" nicht mehr in den Griff zu kriegen ist.

Das Dogma des Wirtschaftsliberalismus bedroht den sozialen Frieden. Geistesgrößen wie der in Wien geborene Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi haben längst gezeigt, dass der Wirtschaftsliberalismus zwar den theoretischen Boden für ein hochproduktives Marktsystem aufbereitet hat, historisch aber auch das ideologische Alibi für ein gewaltiges Umverteilungsprogramm von den vielen zu den wenigen gewesen ist. Wer in unserer Zeit multipler, hochkomplexer Krisen die notwendigen Aktivitäten des Lebens weiterhin den Gesetzen des liberalen Marktes unterwerfen will, greift die Lebensadern der Gesellschaft an.

Sorge wegen Wohlstandsverlusts

In den Gesprächen mit den Menschen sind größte Sorgen wegen eines möglichen Wohlstandsverlusts zu hören. Studien, etwa der Arbeiterkammer, sprechen dazu eine eindeutige Sprache: Wer schon vor der Corona-Pandemie wenig gehabt hat, hat heute noch weniger. Wer an den Rand der Gesellschaft gedrängt war, steht jetzt oft noch ein Stück tiefer im Abseits. Und ganz besonders gefährdet, den Anschluss zu verlieren, sind Kinder und junge Menschen aus einkommensschwächeren Familien.

Um darauf soziale Antworten zu finden, braucht es eine Bundesregierung ohne sich selbst überhöhende Agenten des liberalen Dogmas, demnach der Markt sich am Ende schon irgendwie selbst regulieren wird – was einfach zu einem Code für Gier und das Recht des Stärkeren geworden ist. Nur ohne diese Kräfte wird eine Sozial- und Wirtschaftspolitik möglich sein, die die Kosten unserer Krisen nicht diejenigen bezahlen lässt, die schon heute wenig haben. Sondern die alle ihren gerechten Teil beitragen lässt.

Die Landeshauptleute zogen die Notbremse in der ÖVP.
Illustration: Fatih Aydogdu

Politische Verantwortung

Mit der ÖVP ist genau das auf Bundesebene nicht mehr machbar. Auf Länderebene muss man das differenzierter sehen. Nicht wenige ÖVP-Vertreter in den Ländern halten den sozialpartnerschaftlichen Gedanken hoch und haben sich zutiefst für die Worte des Ex-Öbag-Chefs und Kurz-Vertrauten Thomas Schmid geniert, der seine Partei in Chats offen und ungeniert die "Hure der Reichen" genannt hat. Letztlich waren es auch die schwarzen Landeshauptleute, die den türkisen Zug mit dem Ziehen der Notbremse gestoppt haben, um noch Schlimmeres für Österreich zu verhindern. Das ist ihnen anzurechnen.

Auf Bundesebene ist die ÖVP aber seit 36 Jahren durchgehend an der Macht und hat in dieser Zeit ein System errichtet, das sich unter Kurz endgültig in Vorwürfen betreffend Bestechung, Korruption und Untreue verloren hat. Juristisch gilt für alle Beteiligten die Unschuldsvermutung. Aber politisch hat die ÖVP klar und vielfach unter Beweis gestellt, dass ihre "Hure der Reichen"-Politik so schnell wie möglich von der Regierungsbank auf die Oppositionsbank ausgewechselt werden muss. Mit dieser ÖVP ist kein Staat mehr zu machen.

Klarer Stopp

Auch wenn die ÖVP ihre türkisen Fahnen einholt und sich wieder schwarz ausstaffiert, kann sie nicht verbergen, wie eng sie noch immer mit dem türkisen System verwoben ist. Das beginnt allein schon beim Personal im Maschinenraum, von denen viele unter Kanzler Kurz begeisterte und ganz zentrale Maschinisten des türkisen Regierungsapparats gewesen sind. Nehmen wir allein Kanzler Karl Nehammer, der unter Kurz ÖVP-Generalsekretär und Innenminister gewesen ist.

Wenn wir in Österreich und Europa die drohenden Verheerungen bewältigen und uns aus der Krise herausarbeiten wollen, dann brauchen wir einen klaren Stopp für die Politik, in der der Markt über den Interessen der Menschen steht. Stattdessen möglichst rasch eine Bundesregierung, die nicht die Interessen des Kapitals in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt, sondern die Interessen der Bevölkerung.

Das ist nach der nächsten Nationalratswahl möglich: unter sozialdemokratischer Führung und mit einem klaren Nein zu dieser ÖVP und zu allen Apologeten des liberalen Marktes. Damit sorgen wir für die Bewegung, die unsere Demokratie heute wieder so dringend braucht. (Max Lercher, 30.10.2022)