Ein von unmittelbarer politischer Einflussnahme freier ORF kann so nicht gedeihen, sagt der Jurist, SOS-ORF-Mitinitiator und ehemalige Politiker Alfred J. Noll im Gastkommentar: "Dieses System ist verrottet."

Illustration: Fatih Aydogdu

Von Otto Neurath ist der schöne Spruch überliefert: "Wenn früher ein Mensch und ein Sumpf zusammenkamen, verschwand der Mensch, jetzt der Sumpf." Wer einen Blick auf die letzthin bekannt gewordenen Kommunikationstollheiten wirft, der wird versucht sein, den Ökonomen und Philosophen Neurath zu korrigieren: "Wo früher der Sumpf und ein Mensch zusammenkamen, verschwand der Sumpf, jetzt macht der Mensch sich heimisch im Sumpf." Nein, natürlich nicht alle Menschen – aber gefühlt all diejenigen, die in dieser Republik was geworden sind oder doch als solche gelten.

Recht eigentlich wäre anzuraten, sich angesichts der prostitutiven Offenbarungen mit Kommentaren so lange zurückzuhalten, bis die Erregungsamplitude abflacht. "Sine ira et studio" – frei von Leidenschaft. Allein: Wie soll man sich beruhigen bei so viel Opportunismus, bei so viel postenversprechender Devotheit und den sie begleitenden Einschmeicheleien?

Munterer Postenschacher

Da ist einmal der ORF mit der von ihm ausgestrahlten unerträglichen Seichtigkeit des Scheins von Unabhängigkeit. Gewiss wird sich Alexander Wrabetz vorzugsweise zum Vorwurf machen, dass er selbst nicht nochmals ORF-Chef geworden ist.

Jemand wie ich aber, immerhin einer der Mitinitiatoren von SOS-ORF im Jahr 2006, muss ihm zum Vorwurf machen, dass er den ORF nicht dorthin bewegt hat, wo er hingehört: zu einem von unmittelbarer politischer Einflussnahme freien Hort der Aufklärung und der niveauvoll-unterhaltenden Reflexion. Im Gegenteil: Gerade die sattsam bekannten "Geschäfte" um Postenbesetzungen, Voraussetzungen für seine Wiederwahl, haben ein Klima geschaffen, in dem es "normal" für alle politischen Parteien wurde, sich jeweils "ihre" Posten zu sichern. Hier sind übrigens die Grünen die größten Heuchler, haben sie doch nicht nur im Stiftungsrat sofort die unabhängige, fachlich kompetente, auf Media-Accountability spezialisierte Expertin Susanne Fengler ersetzt, sondern beim Postenschacher munter mitgespielt. Ein ORF-Chef aber kann nicht stärker sein als seine Belegschaft: Längst vorbei sind die Zeiten, in denen aus dem ORF heraus für die Unabhängigkeit des ORF gestritten wurde – einzelne Stimmen, wiewohl in der Öffentlichkeit vernehmbar, sind bloß der Nachweis für die sonstige Windstille.

"Ganz so lieb sind unsere politischen Beförderer auch wieder nicht, dass sie einem so ein Ticket einfach schenken würden."

Und hier kommen wir zu Herrn Schrom. Von Anfang an wussten alle, wie dieser Mann wurde, was er jetzt vier Jahre war: Er reiste auf einem Politikticket nach oben – und erwartungsgemäß versuchte er, sich dankbar zu zeigen. Wen wundert’s? Ganz so lieb sind unsere politischen Beförderer auch wieder nicht, dass sie einem so ein Ticket einfach schenken würden. Also erstaunt mich nicht, was wir jetzt an Chat-Inhalten kennen (wer hätte je anderes erwartet!), mich erstaunt vielmehr das Erstaunen darüber: Seid ihr wirklich alle so naiv?

Oder anders gesagt: Der spezielle Unmut entsteht bei mir nicht durch die Chats – über so viel Selbstüberwindung verfüge ich nicht, dass ich im Wässerchen dieser Banalitäten mitzuplätschern Lust hätte –, mein Unmut resultiert aus einer politischen Landschaft, die Bestellungen wie die von Matthias Schrom zulässt. Es mag richtig gewesen sein, Schrom Respekt für seine Arbeit zu zollen, aber das Kainsmal seiner Bestellung bleibt – und dies unerwähnt gelassen zu haben zeugt wiederum von einem gewissen Kleinmut des jetzigen ORF-Chefs.

"Allein Sache der Styria."

Anders ist die Sache beim Chefredakteur der konservativen Selbstermunterung, die unter dem Titel Die Presse von Rainer Nowak geleitet wurde. Es ist nicht unsere Sache, darüber zu urteilen, nach welchen Kriterien ein privates Medienunternehmen sein Personal bestellt oder behält. Das ist allein Sache der Styria. Indes ist es nicht leicht nachvollziehbar, dass es das Unternehmen – vor dem Hintergrund massiver staatlicher Förderung – zulassen konnte, dass ein Führungsorgan des sich unabhängig gebenden Printmediums derart (!) politische Hilfe erbittet, um im ORF an die Spitze zu gelangen (Schmid: "Jetzt du noch ORF-Chef" / "Alter – dann geht’s aber ab" / "Danke für alles." – Nowak: "Ehrensache. Jetzt musst du mir bitte beim ORF helfen"). Gewiss hat Nowak damit all jenen Schaden zugefügt, die in unserem Land in Sonntagsreden die Wörter "Unabhängigkeit" und "Presse" stets in einen Satz zu pressen versuchen. Man wird ihnen nicht antworten müssen, sondern darf dann mildtätig lächeln.

Auf Kosten anderer

Vor einer Woche hat Heide Schmidt an dieser Stelle geschrieben: "Wir brauchen zwar Gesetzesänderungen (...), aber wir brauchen keine Systemänderung." (In der STANDARD-Serie "Das nächste Österreich", siehe "Kein Grund zum Verzweifeln", Anm.) Ach, wie falsch sie doch liegt! Vom Aufklärer Jean-Jacques Rousseau könnten wir wissen: "Que sert, hélas! d’arroser le feuillage quand l’arbre est coupé par le pied?" – Was nützt es denn, das Laub zu gießen, wenn der Baum an seinem Fuße abgeschnitten ist?

Dieses System ist verrottet. Es fördert allenthalben die Nach-oben- und Nach-vorn-Drängler, es unterstützt diejenigen, die unentwegt erst etwas werden und aus sich (immer: auf Kosten anderer) etwas machen wollen. Und diese Aufwärtsbewegung, bei der es kaum je vorwärtsgeht, können sie sich allesamt nur vorstellen als wechselseitige "freundschaftliche Beförderung" in einem umfassenden und lückenlosen System des Do-ut-des: Ich gebe, damit du gibst! (Alfred J. Noll, 12.11.2022)