Heide Schmidt, Gründerin des Liberalen Forums, schreibt in ihrem Gastkommentar über die negativen Auswirkungen der ÖVP-Chats auf die gesamte Politik – und sie zeigt Auswege auf.

Er ist zwar weg, aber nicht nur die Politik ist weiterhin mit seiner Kanzlerschaft beschäftigt: Sebastian Kurz.
Foto: Matthias Cremer

Im Zusammenhang mit Chatprotokollen und Korruptionsvorwürfen an ÖVP-Entscheidungsträger können wir alle gerade beobachten, wie Narrative entstehen. Erster Schritt Verharmlosung: Man habe sich nur im Ton vergriffen. Zweiter Schritt Verallgemeinerung, um ein Komplizenverständnis zu erreichen: Wer von uns hat sich noch nicht im Ton vergriffen. Dritter Schritt Verallgemeinerung, um sich den vorhandenen schlechten Ruf des politischen Personals zunutze zu machen: Es machen ja alle so. Wenn sich das alles verfestigt hat, kann man den vierten Schritt setzen, der etwas gewagter, weil widersprüchlich ist: Wenn es alle tun, kann es nicht böse sein, aber eigentlich haben wir es gar nicht getan. Für diesen Schritt braucht es flankierende Maßnahmen: die Diskreditierung der Aufdeckerinnen und Aufdecker sowie eine Sprachumdeutung des Wortes "bewiesen".

Der nahezu zum Kultwort mutierte, aber abgenutzte Begriff der Unschuldsvermutung reicht nicht mehr aus: Wenn das eine nicht erwiesen ist, so gilt nun das Gegenteil dessen bereits als bewiesen. Ist also die Schuld von Sebastian Kurz noch nicht erwiesen, so sei seine Unschuld bereits bewiesen. Dieser Sprachtrick vollendet vorläufig das sorgsam aufgebaute Narrativ. Die Kollateralschäden als Botschaften an die Bevölkerung bleiben zurück: Beleidigung als lockere Normalsprache, Unmoral als übliche Grundlage politischen Handelns, Eigeninteresse statt Gesamtinteresse, Professionalität ungeachtet dessen, wofür sie eingesetzt wird, Anstand ist keine relevante Kategorie. Das gesellschaftliche Ergebnis sollte nicht verwundern: Demokratiemüdigkeit und Politikerverdrossenheit.

Vergifteter Boden

Nach einer jüngsten Umfrage von Unique Research halten 48 Prozent der Bevölkerung, also nahezu die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger, alle Parteien für so korruptionsanfällig, dass sie früher oder später ein Problem damit bekommen würden. Ein vergleichender Blick in die Vergangenheit ist weder hilfreich noch beruhigend. Beunruhigend ist vielmehr die nun selbstbewusst zur Schau gestellte Uneinsichtigkeit so mancher politischer Akteurinnen und Akteure wie auch die Vergiftung des demokratischen Bodens des Landes.

Seit langem beschäftigt mich meine These, dass dieser Boden nur ein bestimmtes Ausmaß an toxischer Konzentration verträgt, bis er bricht. Die Konzentration wurde in vielen Jahren in unterschiedlichen Dosen verdichtet. Die Auswirkungen der letzten Überdosis sind noch nicht absehbar, aber dass wir uns mehr um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Staat, seine Institutionen und sein Personal, also um die Demokratie kümmern müssen, liegt auf der Hand. Das erfordern die globalen und europäischen Rahmenbedingungen ebenso wie die innerösterreichischen, und manche sind so sehr miteinander verschränkt, dass sie schwer auseinanderzuhalten sind.

Serie: Österreich braucht dringend eine Kurskorrektur. Korruption sowie Freunderl- und Parteienwirtschaft widern die Menschen zunehmend an. Was müsste geschehen, wer muss aktiv werden und wie? In einer Serie widmet sich DER STANDARD drängenden Fragen zur Zukunft unseres Landes.
Foto: DER STANDARD

Im Österreich der Zukunft werden seine Bürgerinnen und Bürger nicht nur von politischem Fehlverhalten betroffen sein, sondern vor allem von der Klimaveränderung, und zwar in einer Weise, wie wir es in der Vergangenheit nicht wussten und in der Gegenwart noch nicht wahrhaben wollen. Das wird unter anderem eine Änderung der Luft- und Bodenqualität und damit der (Welt-)Ernährungssituation mit unmittelbarer Auswirkung für jede(n) Einzelnen mit sich bringen, wie es auch neben Wetterkatastrophen Migrations- und Fluchtbewegungen verstärken wird. Mit dem Aufbau von Zäunen löst man kein Problem.

Große Umbrüche

Die Sorge und Angst vor einer solchen Zukunft können nur Menschen nehmen, die glaubhaft Kompetenz vermitteln und den Mut und die Fähigkeit haben, notwendige Entscheidungen zu argumentieren und durchzusetzen. Man muss spüren, dass es ihnen um Humanität und das Gemeinwohl und nicht um den Machterhalt ihrer Partei geht, und es gibt ausreichend Gelegenheiten, das zu beweisen.

Wenn sie etwa die Wichtigkeit des sozialen Zusammenhaltes auch dann thematisieren, wenn es augenblicklich unpopulär ist. Wenn sie Gesetzesinitiativen ins Spiel bringen, die allen eine würdevolle Existenzsicherung garantieren, denn die werden wir bei all den Umbrüchen, die auch die Arbeitswelt betreffen, dringend brauchen. Es geht um das Modell eines bedingungslosen Grundeinkommens. Bekämen es alle, die hier eine bestimmte Zeit lang leben, hätte es auch eine integrative Wirkung, die wir so dringend brauchen. Und es würde Menschen das Netz dafür bieten, etwas vielleicht Riskantes, Neues zu beginnen, um ihr Leben selbstbestimmt zu organisieren. Wenn den Anspruch alle haben, fühlt sich beim Erhalt niemand diskriminiert, die Auszahlung aber müsste über das Steuersystem so gestaltet sein, dass es nur bekommt, wer es auch braucht.

Keine Systemänderung

Die Modelle liegen auf dem Tisch, die Politik muss nur wollen. Doch welche Politik? Die Parteien, die wir haben und denen so großes Misstrauen entgegenschlägt? Ich glaube, ja, denn ich kenne keine bessere Alternative zur parlamentarischen Parteiendemokratie. In Parteien sind jene unterschiedlichen Vorstellungen darüber gebündelt, in welcher Art von Gesellschaft man leben will. Die von Wählerinnen und Wählern verliehene Größenordnung der Partei im Parlament entscheidet darüber, was von den Vorstellungen umgesetzt werden kann. Manchmal aber macht die Realität, wie gerade eben, einen Strich durch die Rechnung: Grüne sehen sich gezwungen, kurzfristig für Kohle- und Atomkraftwerke einzutreten, Liberale für Verstaatlichungen und Schulden. Es hängt an der Glaubwürdigkeit der Personen und ihrer Argumentation, solche Tabubrüche hinnehmen zu können. Bei allem Unbehagen können sie eine Demokratie aber sogar reifer machen.

Es kommt also auf den Menschen an. Auf die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger und was sie wie tun, auf das Wahlvolk und was es wie honoriert. Und auf die Möglichkeiten des Staates und was er wie sanktioniert. Wir brauchen zwar Gesetzesänderungen (zum Beispiel das Rechtsstaatsvolksbegehren), aber wir brauchen keine Systemänderung. Manchmal schaue ich gar nicht so pessimistisch in die Zukunft Österreichs. (Heide Schmidt, 6.11.2022)