Aktiver und beweglicher als so mancher Kicker: Der italienische Starflitzer Mario Ferri hat die Partie Portugals gegen Uruguay für seine Botschaften gekapert. Die Partie endete trotzdem 2:0.

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Es begann, wie sowas immer beginnt: mit einer depperten Bubenwette. Einer sagt: "Das traust di nie!" Der andere: "Was wett ma?" Dann ergibt eben eins das andere. "Sag dreimal ,feig‘!" – "Feig, feig, feig." Und schon stieg Michael O’Brian aus den Kleidern und rannte los.

Es war der 24. April 1974. Michael O’Brian, ein Buchhalter aus Australien, saß mit ein paar Kumpeln im Londoner Twickenham Stadium, um sich das Rugby-Ländermatch zwischen England und Frankreich anzuschauen. Ein paar Pints waren schon getrunken. Die Burschen wechselten bald von der Ausgelassenheit zum Fürwitz. "Ein Engländer hat mich herausgefordert. Meine australischen Freunde haben ihm noch gesagt, er solle nicht mit mir wetten, weil ich es wirklich machen würde."

Breite Botschaft

Michael O’Brian, der Nackerte von Twickenham, war der erste aktenkundige streaker, wie die Anglophonen jene Menschen nennen, die dem Mr. O’Brian nacheifern bis auf den dieswöchigen Montag herauf, da einer das WM-Match zwischen Portugal und Uruguay gekapert hatte, um sich (Superman-Leiberl) und seine breit angelegten Botschaften ("Respekt den iranischen Frauen", "Rettet die Ukraine", "Keine Liebe ist illegal") unter die Leute zu bringen.

Ursprünglich zogen Flitzerinnen und Flitzer meistens zuerst blank und dann erst los. Davon sind im Lauf der Zeit viele "pitch invaders" abgekommen. Freilich auch nicht alle. Hier ein Flitzer beim Rugby-League-World-Cup-Finale Australien gegen Samoa 2022 in Manchester.
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Kurz war Mario Ferri – der im Flitzerwesen schon ein abgebrühter Haudegen ist – sogar im Fernsehen zu sehen. Da haben die Fifa-Aufpasser ein bisserl geschlafen. Normalerweise passen sie auf wie die Haftelmacher, dass von solchen nicht genehmigten Sachen nichts an jene Öffentlichkeit dringt, für die sie gedacht sind. Das Fernsehsignal produziert und kontrolliert die Fifa ja selber. So geht, sagt man in den höchsten Fußballfunktionärskreisen, Pressefreiheit à la Association Football. Emire zum Beispiel verstehen das sehr gut.

Der 35-jährige Mario Ferri wird nicht der letzte Flitzer gewesen sein, der die großen Bühnen nicht nur des sportlichen Schautheaters nützen wird. Und im Vergleich zu früher ist das Flitzen so selten geworden, dass man direkt darauf wartet und es der Fifa krummnimmt, dass sie das nicht zeigt. Die Flitzer finden es deshalb ja nicht einmal mehr der Mühe wert, sich zu entkleiden. Und das war ursprünglich das Entscheidende. Das war ja die Wette von Urvater O’Brian: als Nackerpatzl bis zum Spielfeldzaun vis à vis zu laufen. Wetteinsatz: zehn Pfund Sterling.

Der Reiz des Nackerten

O’Brian löste eine richtiggehende Nackerpatzl-Welle aus, die rund um die Welt lief. Keineswegs beschränkt aufs Sportliche. Man und frau flitzte, wo immer sich Gelegenheit bot. Georg Danzer veröffentlichte schon 1975 sein schönes Lied vom Nackerten im Hawelka: "Geh wui, oiso pfui; andrerseits – a so a Nackerter hat a sein’ Reiz."

Beim Wimbledon-Männerfinale 1996.
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Einer der größten seiner Branche tat noch genau das. Mark Roberts heißt er, 59 ist er. Er ließ sich einst inspirieren von einer Nackerten, die er 1993 über ein Rugby-Feld in Hongkong sprinten gesehen hatte. Das tat er ihr ein paar Tage später nach. Der gebürtige Liverpooler beehrte danach nicht nur die Anfield Road. Er war bei der Super Bowl 2004 (jene mit dem "Nipplegate" von Janet Jackson), bei Winter-Olympia 2006 in Turin, bei Sommer-Olympia 2008 in Peking, wo er im Tutu mit den Pferden galoppierte.

Die Angelegenheit rutschte ins unmittelbar Politische, als die russischen Pussy Rioter auftauchten. Die Aktionen der jungen – wäre einer ein Sexist, würde er triebgesteuert sagen: ansehnlichen – Frauen brachten die von Putins Patriarchen so schön gedachten Ordnungen durcheinander. Klarerweise waren die Punkerinnen auch beim WM-Finale 2018 in Moskau mit dabei.

Gemächtl

Die zunehmende Politisierung des FKK-Laufens hat aber das Nackerpatzltum ein wenig in den Hintergrund gerückt. Manchmal – aber wirklich nur manchmal – geht es bei der pitch invasion auch um rein sportliche Gründe. Rapid kann da Lieder mit vielen Strophen singen.

Beim Slalom in Schladming 2020.
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Eine schöne Geschichte wird vom jungen Everton-Fan Richard Dunn erzählt. Der rannte während einer Partie aufs Feld und grätschte gegen Middlesbroughs Franck Queudrue. Auf die Frage, warum er das getan habe, erwiderte der erst Neunjährige: "Die Mannschaft hat einfach katastrophal gespielt. Ich wollte denen zeigen, wie man ein ordentliches Tackling macht!"

Dass das Nackerte beim Flitzen abgekommen ist, kann auch einen schlichten – maskulinen – Grund haben. Der 24. April 1974 war ein saukalter Tag. Ein Bobby, Bruce Perry mit Namen, verdeckte mit seinem Helm das Gemächt des Flitzers. Später erzählte er: "Es war ein außerordentlich kalter Tag. Michael hatte nichts, worauf er hätte stolz sein können." Es war ein Gemächtl. (Wolfgang Weisgram, 29.11.2022)