Wohl alle haben mit einem Schuss aufs Tor gerechnet.

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Stattdessen bekam Weghorst den Ball flach zugespielt. Schnelle Drehung, Tor.

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Torjubel. Am Ende schied Oranje aber trotzdem aus.

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101. Minute im WM-Viertelfinale. Freistoß für die Niederlande am gegnerischen Strafraum. Wohl alle im Stadion und vor den TV-Bildschirmen rechnen mit einem direkten Schuss aufs Tor. Was danach folgte, wird wohl auf ewig in WM-Zusammenfassungen vorkommen. Denn Teun Koopmeiners zog nicht ab, sondern spielte einen Flachpass zu Wout Weghorst Richtung Elferpunkt. Der Stürmer nahm sich den Ball per Drehung mit und erzielte den viel umjubelten, nicht mehr für möglich gehaltenen Oranje-Ausgleichstreffer.

"Wir wussten, dass Weghorst vor ein paar Jahren schon einmal so in der Bundesliga getroffen hat", erklärte Teamkollege Luuk de Jong nach dem Spiel. "Also haben wir das noch einmal versucht und es hat geklappt." Tatsächlich traf Weghorst am 25. Oktober 2020 gegen Arminia Bielefeld in der deutschen Bundesliga auf ähnliche Weise. Damals stürmte Weghorst für den VfL Wolfsburg. Oliver Glasner war damals sein Trainer, er wurde assistiert von Landsmann Michael Angerschmid. Und ebendieser brütete damals Standardvarianten aus.

Mastermind Angerschmid

"Die sind irgendwie in meinem Kopf...", sagte Angerschmid damals dem "Sportbuzzer". "Ich beschäftige mich ja schon länger mit Standards, das habe ich schon bei meinem alten Verein gemacht." Wenn er etwa beim Fußballschauen im TV eine Variante sehe, "dann speichere ich die ab. Und irgendwann, wenn ich denke, das könnte für uns in einem Spiel auch mal passen, dann üben wir das zuvor im Training." Schließlich soll es sich lohnen: "Mein Ziel ist es, dass wir 30 bis 35 Prozent unserer Tore nach Standards erzielen. Das ist zwar ein hoch gestecktes Ziel, aber es ist realistisch und möglich, wenn wir die Standards gut umsetzen."

Ironie des Abends: Auch Argentinien sorgte einst mit einem Freistoßtrick für Aufsehen. Im WM-Achtelfinale 1998 gegen England spielte Juan Sebastián Verón ebenfalls einen Freistoß kurz ab, Javier Zanetti traf wuchtig zum 2:2. Am Ende stieg Argentinien im Elfmeterschießen auf und schied im Viertelfinale aus. Gegner damals: die Niederlande.

Enttäuschter van Gaal

Diesmal hatte Argentinien das bessere Ende im Elfmeterschießen für sich. Für Oranje hat sich der Freistoßtrick am Freitagabend letztlich nicht gelohnt. Trainer Louis van Gaal war sichtlich angeschlagen. Seine dritte Amtszeit als Bondscoach endete wie seine zweite (WM-Semifinale 2014) gegen Argentinien im Elfmeterschießen. "Wir haben das ganze Jahr Elfmeterschießen geübt, und dann vermasselt man es", sagte der frühere Bayern-Coach, der seine Spieler sogar angehalten hatte, auch bei ihren Vereinen Elfmeter zu üben. Van Gaal hob stolz die Moral der Spieler, den frechen Freistoßtrick oder die Serie von 20 Spielen ohne Niederlage hervor. Das Aus tue besonders weh, "weil ich alles mir Mögliche getan habe, um es zu verhindern".

Kritik an Defensivtaktik

Die niederländischen Medien werfen ihm jedoch vor, zu zögerlich agiert zu haben. In 70 Minuten brachte Oranje spielerisch kaum etwas zustande. Erst in der Schlussphase wurde man dank hoher Bälle gefährlich und schaffte auch die "fantastische Auferstehung" (AD). In der Verlängerung igelten sich die Niederlande aber wieder hinten ein. Die "offensive Ohnmacht" von Oranje sei "schmerzlich anzusehen", schrieb De Telegraaf. "Für ein Land, das in der Vergangenheit stolz auf seinen attraktiven und offensiven Fußball war, war es sehr wenig." Es sei vielmehr "Polder-Catenaccio" und "opportunistischer Kampffußball", analysierte die Tageszeitung NRC, keineswegs mehr der legendäre "Voetbal totaal".

Van Gaal sagte: "Wir spielen nicht mehr Fußball wie 1998 oder 1978", erklärte der 71-Jährige. Er hinterlasse "eine exzellente Gruppe. Eine, die sehr eng zusammengewachsen ist, einen hervorragenden Teamgeist hat und fußballerisch stark ist."

Allerdings "ohne Flügelspieler, die einen Mann auf höchstem Niveau überholen können", wie es sich viele daheim gewünscht hätten. Wohl auch deshalb hinterfragte NRC, "warum van Gaal immer wieder behauptete, die Niederlande könnten Weltmeister werden".

Nach der WM übernimmt nun Ronald Koeman das Amt als Bondscoach. Ob sich van Gaal nun wirklich in die wohlverdiente Pension verabschieden wird? "Wenn ein wirklich interessantes Angebot kommt, könnte ich als Trainer weitermachen", hatte er vor dem Spiel gescherzt. Er sei "71 Jahre jung, sehe noch gut und unfassbar jung aus". (red, sid, 10.12.2022)