Die abgesetzte Vizepräsidentin des EU-Parlaments Eva Kaili bei einem Treffen mit dem katarischen Arbeitsminister Ali bin Samikh Al Marri.
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Uneigennützigkeit. Im "Verhaltenskodex für die Mitglieder des Europäischen Parlaments (EP) im Bereich finanzielle Interessen und Interessenkonflikte" ist sie die erste Tugend, die von den Abgeordneten verlangt wird. Und gewissermaßen auch die oberste. Wie eine Klammer zieht sie sich über alle anderen: Integrität, Transparenz, Sorgfalt, Ehrlichkeit, Verantwortlichkeit – und nicht zuletzt Wahrung des guten Rufs des Parlaments.

Verdacht der Bestechlichkeit

Sollten sich die Vorwürfe im jüngsten Korruptionsskandal rund um Eva Kaili, die mittlerweile abgewählte Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, und das angebliche kriminelle Netzwerk in der sozialdemokratischen Fraktion erhärten, dann wurden so gut wie alle diese Prinzipien mit Füßen getreten.

Im Kern geht es um den Verdacht der Bestechlichkeit. Hunderttausende Euro sollen geflossen sein. Der angebliche Auftrag: Einflussnahme auf die EU-Politik zugunsten Marokkos sowie des Golfemirats Katar. Just jenes Landes also, das auch für den Zuschlag zur Ausrichtung der Fußball-WM, für die Relativierung der Verbrechen bei Arbeitnehmer- und Menschenrechten durch effektive PR-Arbeit oder für eine allgemeine Imagepolitur durch sogenanntes Sportswashing in den vergangenen Jahren bereits etliche Hundert Milliarden Euro in die Hand genommen haben soll.

Unschuldsvermutung

Klar ist, dass auch in diesem Fall die Unschuldsvermutung gilt. Denn längst hat die Causa auch strafrechtliche Dimensionen. Kaili, die die Vorwürfe nach wie vor bestreitet, wenngleich ihr Lebensgefährte Francesco Giorgi ein umfassendes Geständnis abgelegt hat, sitzt seit Sonntag in Untersuchungshaft. Giorgi, der nach eigener Aussage vor allem das Bargeld verwaltet haben soll, belastete auch weitere ehemalige wie aktuelle Abgeordnete aus der sozialdemokratischen Fraktion schwer. Am Ende werden Gerichte klären müssen, welche Tatbestände wie geahndet werden sollen.

Doch was ist mit den Hausregeln des Parlaments selbst? Sind sie zu grobmaschig? Liegt der Fehler in mangelnden Kontrollinstanzen? Oder muss man sich letztlich eingestehen, dass auch die höchsten Ansprüche an Transparenz keinen ausreichenden Schutz bieten, weil auch sie von Einzelnen oder ganzen Netzwerken missachtet werden können?

Transparenzoffensive

Am Donnerstag reagierte das Parlament jedenfalls mit einer Transparenzoffensive. Man verbot Vertretern katarischer Interessen den Zutritt, setzte einen Untersuchungsausschuss ein, kappte Spenden aus Drittländern an Abgeordnete und politische Parteien und forderte eine Vermögenserklärung zu Beginn und am Ende eines jedes Mandats im Europäischen Parlament. Niemand soll durch Europapolitik reich werden, so lautet die Idee.

Ein Schritt in Richtung Transparenz, wie sie auch einer der Vorgänger der Griechin Kaili, der Tscheche Libor Rouček, bereits gefordert hat. Der heute 68-Jährige war von 2009 bis 2012 ebenfalls Vizepräsident des EP. Auch er gehörte, wie Kaili, der sozialdemokratischen Fraktion an. Den eingangs erwähnten Verhaltenskodex, der am 1. Jänner 2012 in Kraft trat, hat Rouček mitgestaltet.

In der Korruptionsaffäre um das EU-Parlament hat der Lebensgefährte der Ex-Vizepräsidentin Eva Kaili einem Medienbericht zufolge ein Geständnis abgelegt. Unterdessen wurden gegen Kaili neue Vorwürfe wegen Betrugs mit EU-Haushaltsmitteln laut.
DER STANDARD

Entscheidungen von internationaler Bedeutung

"Schon damals war klar: Weil die Bedeutung der EU insgesamt zunimmt, wird auch im Europäischen Parlament immer häufiger über Dinge entschieden, die nicht nur Auswirkungen auf Europa haben, sondern auf die ganze Welt", sagte Rouček diese Woche nach Bekanntwerden der jüngsten Vorwürfe zum STANDARD. "In Brüssel waren – und sind – deshalb ständig tausende Lobbyisten unterwegs. Als wir zum Beispiel über eine Richtlinie zum Rauchen verhandelt haben, kamen auf 750 Abgeordnete etwa 200 Lobbyisten der Zigarettenindustrie."

Dass die von ihm mitgetragene Verschärfung des Ethikkodex vor mittlerweile mehr als zehn Jahren ein Gebot der Stunde war, davon ist Rouček auch heute noch überzeugt. Geregelt werden darin unter anderem Meldepflichten bezüglich finanzieller Interessen oder bei der Annahme von Geschenken.

"Jetzt zeigt sich aber: Auch der strengste Ethikkodex kann nicht verhindern, dass einige ihn umgehen", beklagt Rouček. Dennoch: Für ihn handelt es sich nicht um ein institutionelles Versagen, sondern um das Versagen Einzelner. "Und das Versagen Einzelner lässt sich leider in keiner Organisation völlig verhindern. Nicht in einer privaten Firma, nicht in einer staatlichen, nicht in einem Ministerium und auch nicht in einem Parlament."

Legitimes Lobbying

Doch stürzen Lobbyisten die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger automatisch in einen Interessenkonflikt? Mitnichten. Denn selbst laut Verhaltenskodex des Europäischen Parlaments besteht ein solcher nur dann, wenn ein "persönliches Interesse" des oder der Abgeordneten vorliegt. Wenn Abgeordnete von einer Entscheidung lediglich "als Teil der allgemeinen Öffentlichkeit oder einer breiten Bevölkerungsschicht profitieren", ist das nicht der Fall. Zu Letzteren gehören gesellschaftliche Gruppen, Berufsverbände und letztlich auch politische Gesinnungsgemeinschaften. Hier liegt das legitime Einfallstor für Lobbyisten. Und hier wird die Sache kompliziert.

Um Licht ins Dunkel der Lobbymaschinerie in der europäischen Hauptstadt zu bringen, wurde 2011 ein Transparenzregister geschaffen. Wer Lobbyismus in Brüssel betreiben will, muss sich nicht zwangsläufig dort registrieren, wer Zutritt zu den EU-Gebäuden erhalten will, allerdings schon. Und eben dort wird die meiste Lobbyarbeit gemacht. Bei Kaffee und Cola light.

Sorge ums freie Mandat

Für das Kollegium der EU-Kommissare gilt mit der "strengen Konditionalität" ein besonders hoher Anspruch. Sie dürfen sich nur mit gelisteten Lobbyisten treffen. Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier lehnten es 2021 mit Verweis auf eine Beschneidung ihres freien Mandats ab, sich daran zu binden. Auch das dürfte demnächst wieder diskutiert werden.

Besonders einflussreiche Abgeordnete, also solche, die etwa einem Komitee vorstehen oder als Berichterstatterinnen fungieren, müssen im Verlauf des Gesetzgebungsprozesses aber zumindest angeben, mit wem sie sich treffen. Ausnahmen gibt es noch bei Drittstaaten, also bei Lobbyisten aus Nicht-EU-Mitgliedern. Um die Schließung dieser Lücken sind nach dem offensichtlichen Einflussversuch Katars und Marokkos nun viele bemüht. Parlamentspräsidentin Roberta Metsola wollte sich an die Spitze des Antikorruptionskampfes setzen.

Ob das plumpe Bestechungsversuche verhindern kann, ist ungewiss. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass sich vor allem autoritär geführte Staaten wie Kasachstan oder Aserbaidschan teils kreativer Schritte bedienten, damit ihre Interessen in Brüssel Niederschlag finden. Politico-Recherchen zeigten, wie das Brüsseler "Nachrichten"-Magazin EU Reporter überdurchschnittlich viele überzogen positive und unkritische Beiträge zu gewissen Staaten oder staatsnahen Firmen verbreitete. Die Beiträge waren allesamt nicht als das gekennzeichnet, was sie waren: bezahlte Werbung, die den Schein objektiver Berichterstattung vermittelte. Um weitere Schritte in Richtung mehr Transparenz kommen die Gesetzgeber wegen des aktuellen Skandals nicht herum. Letztlich sei dies auch im Sinne der Branche selbst, sagt ein junger Lobbyist in Brüssel zum STANDARD.

Gefahr für Demokratie?

Den Überblick im oft diffusen EU-Kosmos, der "Brüsseler Bubble", zu behalten sei nicht immer leicht. "Wir bieten Orientierung, wir wissen, wo und wann es die richtigen Leute anzusprechen gilt, um ein bestimmtes Gesetz entscheidend zu beeinflussen", sagt er. Sehr oft gehe es um Folgenabschätzungen, die Abgeordnete aufgrund limitierter Infos oder mangelnder praktischer Erfahrungen nicht immer korrekt treffen würden. Ob Industrieunternehmen, NGOs oder Staaten: Die Kundschaft vieler Lobbyingfirmen ist ein illustrer, aber potenter Mix aus verschiedenen Stakeholdern.

Die strikt zu ziehende Grenze ist freilich jene zwischen transparenter Interessenvertretung und plumper Korruption. Der Fall Kaili dürfte eher Letzterer zuzuordnen sein. Dennoch dürften strengere Regeln nicht allen schmecken, die Lobbying betreiben (lassen). So entsteht die absurde Situation, dass mehr Transparenz zu noch mehr Umgehungsstrukturen führen könnte. Diese gilt es besonders genau zu beobachten. Von journalistischer, behördlicher wie institutioneller Seite.

"Wenn wir ehrlich sind", sagt der Lobbyist, der lieber anonym bleibt, "haben Unternehmen und Staaten am Ende immer mehr Macht als NGOs oder einzelne EU-Bürgerinnen und EU-Bürger. Deshalb sollten sie zumindest maximal offen sein, was ihre Intentionen und Handlungen betrifft. Ansonsten ist am Ende die Demokratie in Gefahr. Und an diesem Punkt befinden wir uns gerade." (Gerald Schubert, Fabian Sommavilla, 16.12.2022)