Eine an Vogelgrippe verendete Robbe in Peru vom März. 500 Robben starben damals an dem Virus.
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Nerze, Robben, Füchse – die Häufung an Krankheitsfällen scheint zu zeigen, dass das Vogelgrippevirus H5N1 zunehmend auch für Säugetiere und damit womöglich für Menschen gefährlich zu wird. Steht also die nächste Pandemie bevor, wie manche befürchten? Bisher beruhigen Fachleute: Es sei schwierig für das Virus, in den menschlichen Körper einzudringen, eine Übertragung von Mensch zu Mensch sei bisher nicht möglich. Das wäre aber die Voraussetzung für eine Pandemie. Bei Nerzen gab es eine Weitergabe von Tier zu Tier allerdings bereits, erstmals bei Säugetieren.

Gegenüber dem Fachjournal "Science" erklären nun Expertinnen und Experten die genauen Mechanismen, die nötig wären, um H5N1 zu einer Gefahr für die Menschheit werden zu lassen. Es müsste sich von einem Erreger, der auf Übertragung durch fäkalienverseuchtes Wasser und das Verdauungssystem von Vögeln spezialisiert ist, zu einem entwickeln, das über die Luft übertragbar ist und die Lungen von Menschen befallen kann.

Neue Variante

Von besonderem Interesse ist die Variante, die sich aktuell schnell unter Wildvögeln ausbreitet und die 2.3.4.4b genannt wird. Der Virologe Martin Beer vom deutschen Friedrich-Loeffler-Institut hat mit seinem Team untersucht, inwieweit das Virus in der Lage ist, menschliches Lungengewebe zu infizieren. Derzeit sei das nicht effektiv möglich, berichtet Beer.

Wie genau das Virus mutieren könnte, um menschliche Lungen zu infizieren, ist nicht völlig klar. Doch Fachleute haben einige Schlüsselfaktoren identifiziert.

Kambodscha reagierte diesen Februar auf einen Ausbruch von H5N1 in der Nähe der Hauptstadt in Geflügelfarmen mit Schlachtungen.
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Konkret geht es um Änderungen in mehreren wichtigen Proteinen des Virus. Eines davon spielt eine wichtige Rolle bei der Replikation des RNA-Genoms des Virus, sobald es in eine Zelle eindringt. Um seine Aufgabe zu erfüllen, braucht das Protein, eine sogenannte Polymerase, ein Protein der Wirtszelle. Doch derzeit ist es auf Vogelproteine spezialisiert und funktioniert dort besser als bei jenen aus Wirbeltieren. Nur eine Kombination von Mutationen in einer Untereinheit der Polymerase könnte das ändern.

Doch es gibt eine berühmte Schlüsselmutation namens E627K, die alle Voraussetzungen erfüllt und erstmals bei der Spanischen Grippe 1918 auftrat. Die so veränderte Polymerase sei so erfolgreich gewesen, dass sie bis 2009 Teil jedes Grippevirus im Menschen gewesen sei, sagt Tom Peacock vom Imperial College in London. Eine ähnliche Veränderung der Polymerase des aktuellen Vogelgrippevirus wäre ein erster Schritt zu einer Pandemie.

Und es ist bereits passiert: Die E627K-Mutation wurde schon in den Jahren 2021 und 2022 in den Niederlanden in Füchsen nachgewiesen. Letztes Jahr trat sie auch in Robben auf. Mathilde Richard vom Erasmus Medical Center in Rotterdam betont, dass die Mutation die Verbreitung des Virus in Vögeln nicht behindert. "Das ist der Grund, warum wir diese Polymerase-Mutation relativ häufig sehen", sagt Richard.

Weitere Schritte nötig

Doch das allein macht das Virus noch nicht gefährlich für Menschen. Zusätzlich braucht es Änderungen an der Oberfläche, im Protein Hämagglutinin, mit dem sich das Virus an die Wirtszelle bindet.

Zwei Mutationen namens Q226L und G228S wären notwendig, die zwei simultane Veränderungen in nahe benachbarten Bereichen des Erbguts voraussetzen. "Dass so etwas passiert, ist viel unwahrscheinlicher als eine einzelne Änderung", sagt Peacock. Doch wird der Selektionsdruck für das Virus hoch genug, könne es dennoch passieren.

Diese tschechische Hühnerfarm war im vergangenen Jänner der bisher größte H5N1-Hotspot. In den drei Hallen wurden 742.000 Hühner gehalten, die nach dem Ausbruch geschlachtet wurden.
Foto: : IMAGO/CTK Photo/Miroslav Chaloupka

Ein dritter Faktor betrifft die Übertragung über die Luft. Ein Funktionsmechanismus des Virus wird durch eine saure Umgebung ausgelöst, wie es sie im Gewebe vorfindet. Ab einem gewissen pH-Wert verändert sich das Hämagglutinin, wodurch sich die Zellwand des Virus öffnet und es mit der Wirtszelle verschmilzt.

Im Wasser, über das die Übertragung des Virus bisher geschieht, ist kein hoher pH-Wert zu befürchten. Doch in der Luft können sich winzige Wassertröpfchen an das Virus binden und durch Verdunstung zu sauer werden, wodurch das Virus geschädigt wird. Erst eine Mutation, die ein stabileres Hämagglutinin hervorbringt, kann Übertragung durch die Luft für das Virus erfolgreich machen.

Doch Martin Beer glaubt, dass es noch eine vierte Mutation braucht. In Menschen warnt das Protein MxA das Immunsystem vor dem Vorhandensein eines Grippevirus. MxA reagiert auf ein an die RNA des Virus gebundenes Protein. Eine Veränderung von dessen Form würde das Virus für das menschliche Immunsystem quasi unsichtbar machen.

Ein Schwarm von 50.000 Gänsen im US-Bundesstaat Pennsylvania. Die aktuelle Variante von H5N1 verbreitet sich weiter bei Wildvögeln.
Foto: EPA/JIM LO SCALZO

Die Funktion von MxA hat deshalb auch eine wichtige Rolle als Warnzeichen. In Frettchen ist der Mechanismus schwach ausgebildet, weshalb sie anfälliger für Vogelgrippe sind. Gut funktioniert er in Schweinen und Menschen. Beers Team versuchte in einem Experiment, Schweine mit H5N1 zu infizieren. Trotz hoher Dosen des Virus vermehrte es sich in den Schweinen kaum. Eine Verbreitung von H5N1 in Schweinen wäre also ein deutliches Alarmzeichen.

Für uns Menschen sind das gute Nachrichten. Es könnte sein, dass uns die lebenslange Auseinandersetzung mit Grippeviren auf die Abwehr von H5N1 vorbereitet hat, auch wenn wir nicht damit in Kontakt waren.

Wissen dank umstrittener Forschung

Dass dieses Wissen vorhanden ist, liegt zum Teil an einigen umstrittenen Experimenten, die vor etwa zehn Jahren durchgeführt wurden. Damals veränderten Forschende H5N1-Viren gezielt so, dass sie leichter Menschen infizieren konnten. Diese "Gain of function"-Forschung löste eine intensive Diskussion aus. Das absichtliche Erzeugen gefährlicher Virenstämme kann zwar helfen, sich auf künftige Erreger vorzubereiten, birgt aber auch große Risiken, falls die Sicherheitsvorkehrungen versagen. Auch der Ursprung des Coronavirus könnte, so wird zumindest spekuliert, auf diese umstrittene Forschungspraxis zurückzuführen sein. Mathilde Richard kritisiert gegenüber "Science" die in der Folge eingeführten Beschränkungen, die den Wissensfortschritt erheblich verlangsamt hätten.

Generell dürfte die Gefahr einer Pandemie durch H5N1 aktuell also nicht groß sein. Auch wenn es sich derzeit stark verbreitet, sind die Hindernisse für ein Überspringen auf Menschen größer, als sie es bei anderen Vogelgrippeviren waren.

Andererseits scheint es sich diesmal nicht um eine vorbeiziehende Welle zu handeln wie bei früheren Vogelgrippeausbrüchen. Richard geht davon aus, dass das Virus diesmal in Wildvögeln in Europa und auf dem amerikanischen Kontinent überleben wird. Die Auswirkungen auf die Biodiversität werden erheblich sein, befürchten Fachleute. Damit gibt es auch mehr Gefahr durch Mutationen. Diese Bedrohung wird bleiben, sagt Richard.(Reinhard Kleindl, 13.4.2023)