Im Gastkommentar erklärt die Politologin Nina Scholz, dass das Problem der Radikalisierung tiefer liegt. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Julia Ebner: "Wiener Mut".

Zwei Einrichtungen, wo sich der Täter von Wien radikalisiert haben soll, darunter ein Moscheeverein in Ottakring, werden geschlossen, kündigte Ministerin Susanne Raab Freitagnachmittag an.
Foto: Sebastian Fellner

Nach dem schweren Terroranschlag in Wien mit fünf Toten und 22 Verletzten werden in den Medien die gleichen Debatten geführt wie schon in den Jahren zuvor, wenn es um Radikalisierung unter Muslimen ging. Ausgehend von der Frage, was einen jungen Mann zu solchen Taten treibt, folgen alsbald die gängigen Erklärungsmuster: Diskriminierung durch die "Mehrheitsgesellschaft", Perspektivlosigkeit, soziale Deklassierung. Allenfalls findet sich noch eine radikale salafistische Moschee, in der er aufgrund der gerade genannten Ursachen Opfer von Radikalisierung geworden sei. Diese Analysen sind unbefriedigend und nicht plausibel, weil sie einige Fakten außer Acht lassen.

Schlechte Erfahrungen?

Es würde sich zunächst die Frage stellen, warum ausschließlich Muslime Diskriminierung durch die übrige Gesellschaft, Perspektivlosigkeit und soziale Deklassierung mit terroristischer Gewalt beantworten. Zudem trifft der Terror nicht nur den Westen. Er ereignet sich auch und vor allem in Ländern, in denen diejenigen, die zu Fanatikern wurden, weder in der Minderheit noch Diskriminierungserfahrungen ausgesetzt waren. In Kabul, Bagdad, Aleppo, Istanbul oder Kairo zielt er in erster Linie auf Teile der Bevölkerung, auf die dortigen "Ungläubigen": Christen, Jesiden, Aleviten und alle Muslime, die ihren Glauben anders verstehen und praktizieren als die Gotteskrieger. Und schließlich wissen wir schon seit den 9/11-Anschlägen, dass Gewaltbereitschaft und Terrorismus sich durchaus mit guter Ausbildung und privilegierter Stellung vertragen. Die genannten Punkte können den Terror islamischer Fundamentalisten also nicht hinreichend erklären und halten einer unvoreingenommenen sozialwissenschaftlichen Überprüfung nicht stand.

Der hilflose Versuch, diesen Terror und die mit ihm einhergehende Intoleranz, Unduldsamkeit und Überlegenheitshaltung gegenüber Andersdenkenden und Anderslebenden auf schlechte Erfahrungen mit der Gesellschaft, auf Diskriminierung, mangelnde Bildung oder Deklassierung zu schieben, war schon falsch, als der Terror erstmals in Europa von sich reden machte. Dass die genannten Faktoren im Denken und Handeln von Menschen eine Rolle spielen, soll hier nicht abgestritten werden. Aber es ist eine Binsenweisheit, die den Kern des Phänomens verfehlt.

Ideologische Verblendung

Es ist die Ideologie des fundamentalistischen, politisch aufgefassten Islam, die Menschen zu Attacken wie der in Wien oder Paris antreibt, die Überzeugung, für eine durch und durch gerechte Sache zu kämpfen. Die Kraft der Idee, in diesem Fall der politisch-religiösen Überzeugung, wird systematisch unterschätzt, was angesichts der Analysen etwa der Ursachen von Gewalt im rechtsextremen Milieu verwundert, wo man sich ihrer durchaus bewusst ist und auch dem ideologischen Umfeld das Wasser abzugraben trachtet.

Ein Blick auf die Geschichte wäre hier durchaus hilfreich. Eine Geschichte, die voller Beispiele für den Tatendrang und die ideologische Verblendung ist. Wir brauchen uns nur den Nationalsozialismus und die Begeisterung unzähliger Frauen und Männer vor Augen zu führen, von denen sich leider viel zu viele zu allem bereitfanden. Zum Fanatismus der Kommunisten gehörte, im Namen der vermeintlich guten Sache den Gulag als historische Notwendigkeit zu rechtfertigen. Anhänger dieser Ideologien waren überzeugt, das Richtige zu tun und für eine Sache zu kämpfen, die am Ende der ganzen Welt zum Heil gereichen sollte.

"Es ist an der Zeit, die Ideologie eines politischen Islamverständnisses zu diskutieren."

Nichts anderes tun islamische Fundamentalisten weltweit, wenn sie Anschläge gegen die "Ungläubigen" verüben, wenn sie die in ihren Augen sündhaften, nicht gottgefälligen Gesellschaften offener und pluralistischer Demokratien angreifen oder und wenn sie in islamischen Ländern die Gesellschaft – oft getragen von nicht geringen Teilen der Bevölkerung – islamisch homogenisieren wollen. Religiöser Extremismus, Unduldsamkeit und Gewaltbereitschaft zeigen sich leider auch in der Mitte islamischer Gesellschaften und europäischer islamischer Communitys, die sich mit den Terroristen immer dann einig sind, wenn es gegen Homosexuelle, Atheisten, Juden, islamkritische Geister und diejenigen Muslime geht, die religiöse Gebote und Verbote nicht über alles stellen und sich erlauben, selbst zu entscheiden, ob sie etwa im Ramadan fasten oder nicht.

Nach fast 20 Jahren islamistischen Terrors in Europa ist es an der Zeit, den Blick nicht mehr nur auf den Jihadismus zu richten, sondern die dahinterstehende Ideologie eines politischen Islamverständnisses zu diskutieren und sie genauso ernst zu nehmen wie andere totalitäre Ideologien auch. Nicht nur Jihadisten, sondern auch legalistisch operierende Islamisten, die den organisierten Verbandsislam wesentlich dominieren, teilen die Welt in Muslime und Nichtmuslime, imaginieren eine ideale islamische Weltgemeinschaft, propagieren islamische Überlegenheit, lehnen liberale Demokratie, allgemeine Menschenrechte und die Trennung von Religion und Staat ab. Darauf können Jihadisten ihre Propaganda aufbauen.

Tradierte Opferrolle

Zudem teilt man das Narrativ einer muslimischen Gemeinschaft, die seit 1400 Jahren in steter Bedrängnis ist und bekämpft wird. Die Tradierung dieser Opferrolle bei gleichzeitiger Glorifizierung des islamischen Imperialismus hat seit der Gründung der Muslimbruderschaft 1928 einen festen Platz im politisch islamischen Diskurs, sowohl unter Legalisten als auch unter Jihadisten. Letztere verweisen dann darauf, dass aus theologischer Sicht, wie sie sich in der umfangreichen Rechtsliteratur zum Jihad findet, Widerstand in Form des Jihad nicht nur legitim, sondern verpflichtend ist, wenn Islam und Muslime in Gefahr sind. Und ein solcher Grund ist schnell zur Hand. Der von legalistisch-islamistischen Gruppen wie der Muslimbruderschaft oder Millî Görüş geführte Diskurs liefert letztlich jenen die Argumente, die junge Muslime mit dem Aufruf zur Verteidigung für den Jihad rekrutieren wollen.

Wir sollten uns verstärkt mit der Ideologie des politischen Islam beschäftigen, mit dem, was in Moscheen mancher der großen Verbände gepredigt wird. Es ist, wie Untersuchungen inzwischen bestätigen, oft viel zu nah an den ideologischen Grundannahmen der Terroristen. (Nina Scholz, 7.11.2020)