Haben Bundesverwaltungsgerichtshof oder das Bundesamt für Fremdenwesen Fehler gemacht? Zu deren Aufgabe gehört nicht die Verbrechensprävention, sagt Lukas Gahleitner-Gertz, Sprecher und Jurist von Asylkoordination Österreich im Gastkommentar.

NGOs kritisieren, dass der Tod der 13-Jährigen als "rassistisches Ablenkungsmanöver" politisch instrumentalisiert werde. Kanzler Sebastian Kurz spricht von Täter-Opfer-Umkehr.
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Der Volkszorn kocht: Ein 13-jähriges Mädchen ist gestorben, den bisherigen Ermittlungen zufolge mutmaßlich getötet und zuvor vergewaltigt. Tatverdächtig sind vier junge Männer, die in Österreich um internationalen Schutz angesucht haben. Was genau passiert ist, ist noch unklar, das öffentliche Urteil aber gefällt: Die Tat hätte verhindert werden können, wenn die Tatverdächtigen früher abgeschoben worden wären. In der öffentlichen Debatte wird der Antwort auf die Frage, welchen entscheidenden Fehler Asylbehörde oder Gericht gemacht hat, nachgehechelt.

Der Tod von Leonie ist unglaublich schmerzhaft. Der Schmerz und die Wut auf das Geschehene wurden durch die breite Berichterstattung gewissermaßen kollektiviert, die Suche nach Antworten bewegt verständlicherweise viele. Wer ist schuld?

Die Debatte steht mittlerweile aber an einem merkwürdigen Punkt: Einerseits wird unverhohlen die Geltung menschenrechtlicher Garantien für gewisse Menschengruppen infrage gestellt, andererseits werden in einem ZiB 2-Interview für Laien schwer verständliche asylverfahrensrechtliche Details erörtert. War es der Fehler des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG), das Entscheidungsfristen nicht beachtet hat? Oder doch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), das als Partei des Verfahrens keinen Fristsetzungsantrag gestellt hat?

Schonungslose Aufklärung

Der Fall ist in erster Linie ein Kriminalfall, dessen Sachverhalt nach wie vor nicht aufgeklärt und Gegenstand laufender strafrechtlicher Ermittlungen ist. Klar ist: Erhärten sich die konkreten Vorwürfe, wird es zu einer strafrechtlichen Anklage kommen. Hauptaufgabe des Strafrechts ist es, Täter einer Straftat zu ermitteln und zu bestrafen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die österreichische Justiz ihren Job nicht sachkundig, unabhängig und ohne Ansehung der Person erledigen wird. Vertrauen wir ihr.

Die Asylkoordination Österreich ist unverdächtig, Asylbehörden und -gerichte mit Samthandschuhen anzugreifen und Missstände nicht zu thematisieren. Die gegenständliche Asyldebatte und die Suche nach der konkreten Verantwortung des BFA und BVwG beim gegenständlichen Kriminalfall sind verfehlt. Es ist nicht deren Aufgabe, Verbrechensprävention zu betreiben. Weder Beamte des BFA noch Richterinnen und Richter des BVwG sind schuld am Tod des Mädchens. Rufe nach Disziplinarverfahren für die säumigen Richterinnen und Richter sind populistisch und verkennen die systemischen Probleme im Asylbereich. Wer Abschiebungen für ein taugliches Instrument der Gewaltschutzprävention hält, irrt.

Alles okay im Asylbereich?

Also alles okay im Asylbereich? Mitnichten. Es gibt Probleme, die aber seit Jahren bekannt sind. Etwa eine personell unterbelegte zweite Instanz, die auch aufgrund der oft sehr mangelhaften Qualität der Arbeit der ersten Instanz seit Jahren chronisch überfordert ist. Diese Debatte ist überfällig und muss geführt werden. Unsere Erfahrung mit den 27 Gesetzesänderungen allein im Asylgesetz seit 2005 aber zeigt, dass Forderungen nach Gesetzesverschärfungen in einer emotional aufgeheizten Stimmung wenig lösungsorientiert sind. Wir plädieren dafür, diese Debatte sowie jene über die nichtexistente Integrationspolitik in Österreich losgelöst vom Anlassfall zu führen.

Eine Gesellschaft, die eine Tat wie die an Leonie begangene verurteilt, muss die Souveränität beweisen, damit auf reflektierte und rechtsstaatliche Weise umgehen zu können. Österreich hat sich in seiner Verfassung dazu verpflichtet, dass niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf. Dieses absolut geltende Recht wird auch durch Straffälligkeit nicht verwirkt. In einem rechtsstaatlichen Verfahren ist zu prüfen, ob im Falle einer Abschiebung Anhaltspunkte für eine drohende unmenschliche Behandlung im Herkunftsland bestehen. Wer Abschiebung als Strafe ohne diese rechtsstaatliche Prüfung fordert, wendet sich von dieser zentralen zivilisatorischen Errungenschaft ab und entscheidet sich für die Barbarei.

Niemand, absolut niemand

Niemand, absolut niemand ist nicht erschüttert über die Umstände von Leonies Tod. Niemand, absolut niemand fordert, ohne weiteres zur Tagesordnung überzugehen. Niemand, absolut niemand verwehrt sich, Problembereiche lösungsorientiert zu diskutieren. Niemandem, absolut niemandem ist mit einer Sündenbocksuche geholfen. Niemand, absolut niemand sollte aber auch die Tat für seine eigene Agenda missbrauchen, den Rechtsstaat attackieren und das absolut geltende Folterverbot infrage stellen. (Lukas Gahleitner-Gertz, 12.7.2021)