Im Gastkommentar tritt der US-Ökonom Jeffrey D. Sachs dafür ein, dass sich die Nato von der Osterweiterung vollständig verabschieden sollte.

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Dialog oder Krieg? Die Lage ist angespannt, die Zukunft ungewiss.
Foto: AP / Vadim Ghirda

Die Freunde der Ukraine im Westen glauben, sie schützten diese, indem sie deren Recht auf einen Nato-Beitritt verteidigen. Das Gegenteil ist der Fall. Indem sie ein theoretisches Recht verteidigen, machen sie einen russischen Einmarsch wahrscheinlicher und gefährden damit die Sicherheit der Ukraine. Die Unabhängigkeit der Ukraine ließe sich durch eine diplomatische Einigung mit Russland, die die Souveränität der Ukraine als Nichtmitglied der Nato nach dem Vorbild Österreichs, Finnlands und Schwedens garantiert – die alle Mitglieder der EU, jedoch nicht der Nato sind – viel wirksamer schützen.

Konkret würde sich Russland verpflichten, seine Truppen aus dem Osten der Ukraine zurückzuziehen und den Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze zu beenden, und die Nato würde auf die Aufnahme der Ukraine verzichten, sofern Russland die Souveränität der Ukraine und die Ukraine russische Sicherheitsinteressen respektieren. Eine solche Vereinbarung ist möglich, weil sie im beiderseitigen Interesse liegt.

Naiver Vorschlag?

Diejenigen, die die Ukraine gerne als Nato-Mitglied sehen würden, finden diesen Vorschlag sicher naiv. Sie weisen darauf hin, dass Russland 2014 die Ukraine überfallen und die Krim annektiert hat und die aktuelle Krise deshalb besteht, weil Russland mehr als 100.000 Soldaten an der ukrainische Grenze zusammengezogen hat und mit einer erneuten Invasion droht.

Aber ein Angebot, das der Ukraine diesen Status zuspricht, lag nie auf dem Tisch. 2008 wurde der Ukraine (und Georgien) auf Wunsch der USA die Mitgliedschaft in der Nato in Aussicht gestellt, ein Angebot, das für die Region seitdem eine unrühmliche Rolle spielt. Weil die Regierungen von Frankreich, Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern erkannten, dass die US-Initiative Russland provozieren musste, verhinderten sie eine sofortige Einladung an die Ukraine. Allerdings machten die Staats- und Regierungschefs der Nato-Länder in einer gemeinsamen Erklärung mit der Ukraine klar, dass die Ukraine "ein Mitglied der Nato wird".

Kalter Krieg

Aus Sicht des Kreml würde eine Nato-Präsenz in der Ukraine die russische Sicherheit unmittelbar bedrohen. Ein großer Teil der sowjetischen Politik diente der Schaffung einer Pufferzone zwischen Russland und den westlichen Mächten. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat Russland lautstark gegen jede Erweiterung der Nato in den ehemaligen Ostblock protestiert. Natürlich zeigt Putins Argumentation, dass er weiterhin im Denken des Kalten Krieges verhaftet ist; diese Denkweise ist aber auf beiden Seiten zu finden.

Der Kalte Krieg war von einer Reihe lokaler und regionaler Stellvertreterkriege geprägt, in denen die USA und die Sowjetunion versuchten, ein ihnen freundlich gesinntes Regime zu installieren. Und egal, wo in der Welt ein neues Schlachtfeld entstand – in Südost- oder Zentralasien, Afrika, auf der westlichen Hemisphäre oder im Nahe Osten –, es war immer blutig.

Genehme Regime

Seit 1992 wurden jedoch die meisten Kriege mit dem Ziel eines Regimewechsels von den USA geführt oder unterstützt, die sich nach dem Untergang der Sowjetunion als einzige verbliebene Supermacht sahen. Nato-Kräfte bombardierten 1995 Bosnien und 1999 Belgrad, marschierten 2001 in Afghanistan ein und warfen 2011 Bomben auf Libyen. Die USA marschierten 2003 und 2014 in den Irak ein und unterstützten offen die Proteste in der Ukraine, die zum Sturz des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch führten.

Natürlich hat auch Russland versucht, ihm genehme Regime zu installieren. 2004 verhalf es Janukowitsch durch die Einschüchterung der Wählerinnen und Wähler und Wahlbetrug zum Wahlsieg in der Ukraine. Die eigenen Institutionen des Landes und Massenproteste setzten diesem Vorgehen schließlich ein Ende. Außerdem stützt Russland weiterhin befreundete Regime in seinem nahen Umfeld, zuletzt in Kasachstan und Belarus, das jetzt völlig unter Putins Kontrolle steht.

"Das Ganze ist ein langes, trauriges und blutiges Drama."

Die gegenseitige Abneigung und das Misstrauen zwischen Russland und dem Westen hat jedoch wesentlich ältere Wurzeln. Seit seinen Anfängen fürchtete – und durchlitt – Russland Invasionen aus dem Westen, ebenso wie die Europäerinnen und Europäer den Expansionsdrang Russlands Richtung Westen fürchten und auch wiederholt unter ihm gelitten haben. Das Ganze ist ein langes, trauriges und blutiges Drama.

Mit staatsmännischem Geschick auf beiden Seiten hätte sich diese historische Feindschaft nach dem Ende der Sowjetunion auflösen lassen. Diese Chance in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre wurde jedoch vertan. Dabei spielte der Anfang der Nato-Erweiterung keine unwesentliche Rolle. Schon 1998 beurteilte George F. Kennan, ein altgedienter Diplomat und Kenner der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen, diese Entscheidung mit Weitblick und Pessimismus. "Ich denke, dass (die Nato-Erweiterung, Anm.) der Beginn eines neuen Kalten Krieges ist", sagte er, "(...) die Russen werden nach und nach sehr feindselig reagieren, und das wird ihre Politik beeinflussen." US-Verteidigungsminister William Perry teilte diese Ansicht und dachte aus diesem Grund sogar darüber nach, aus der Regierung von Präsident Bill Clinton auszuscheiden.

Kein Kampf "Gut gegen Böse"

Keine der beiden Seiten ist an der aktuellen Situation unschuldig. Anstatt den Konflikt als Kampf "Gut gegen Böse" darzustellen, sollte alle lieber überlegen, was nötig ist, um die Sicherheit beider Seiten und der ganzen Welt zu verbessern. Wie die Geschichte zeigt, ist es am besten, russische und Nato-Kräfte geografisch möglichst weit voneinander entfernt zu stationieren, sodass sie sich nicht an einer Grenze direkt gegenüberstehen. Nie waren Europa und die Welt in größerer Gefahr als während der Konfrontationen zwischen den USA und der Sowjetunion auf kurzer Distanz 1961 in Berlin und 1962 in Kuba. Unter diesen qualvollen, die ganze Welt bedrohenden Umständen war der Bau der Berliner Mauer – so tragisch er war – ein stabilisierender Faktor.

Heute sollten unsere wichtigsten Ziele die Souveränität der Ukraine und Frieden in Europa und der Welt sein, nicht die Präsenz der Nato in der Ukraine und bestimmt nicht eine neue Mauer. Die Ukraine selbst wäre viel sicherer, wenn die Nato im Austausch für den Rückzug Russlands aus der Ostukraine und den Abzug seiner Truppen von der ukrainischen Grenze auf jede weitere Osterweiterung verzichten würde. (Jeffrey D. Sachs, Copyright: Project Syndicate, 18.2.2022)