"Das Schicksal des westlichen Populismus und der Autokratie hängt keineswegs alleine am Rockzipfel ihres vermeintlichen Großmeisters Putin", schreibt Misha Glenny, Rektor des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen, in seinem Gastkommentar.

Die russische Invasion der Ukraine hat so manche Vertreter westlicher Demokratien wachgerüttelt, hatten sie es doch in den Jahren zuvor verabsäumt, der zunehmenden Bedrohung durch Populisten wie Donald Trump und Boris Johnson entgegenzutreten. Während der Ukraine-Krieg andauert, deutet aber alles darauf hin, dass Populismus und Autokratie starke Kräfte mit potenziell tiefgreifenden Auswirkungen auf die Politik bleiben.

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Treffen zweier Populisten: der damalige US-Präsident Donald Trump und britische Premierminister Boris Johnson.
Foto: Reuters/Peter Nicholls

Das Phänomen war bereits vor dem Krieg bekannt: Demokratisch legitimierte Politiker machen sich nach Amtsübernahme umgehend daran, jene demokratischen Institutionen auszuhöhlen, durch die sie an die Macht kamen. Nach dem Schicksalsjahr 2016 zog dieser neue Politikertypus von Washington bis Warschau sämtliche Register, um an der Macht zu bleiben. Mittels Aushebelung der Rechtsstaatlichkeit, Beschneidung der Pressefreiheit, Manipulation des Wahlrechts und Verbreitung von Falschinformationen festigten sie ihre Positionen. Trump und Johnson fanden schnell heraus, dass man mit so ziemlich jeder Unwahrheit durchkommt. Zweifellos haben sich Wladimir Putins Handlungen als herber Rückschlag für den Populismus entpuppt. Sie führten zu einem Bruch der Allianz zwischen Polen und Ungarn, die zuvor im Hinblick auf ihren Widerstand gegen Brüssel geeint gewesen waren. Was übrigbleibt, ist ein Gefühl der Verbitterung vergleichbar jenem zwischen Liebespartnern nach einem Seitensprung (im konkreten Fall Viktor Orbáns Schwärmerei für Putin).

Doch das Schicksal des westlichen Populismus und der Autokratie hängt keineswegs alleine am Rockzipfel ihres vermeintlichen Großmeisters Putin. Gewiss, der russische Präsident hat Trumps Wahlsieg begrüßt. Und natürlich hat Russland vom Brexit profitiert, der in Europa Zwietracht gesät und die Gräben zwischen Europa und der anglophonen Welt geweitet hat. Doch diese Verbindung von Populismus und Autokratie ist kein Import aus Russland. Sie ist hausgemacht.

Weniger als drei Monate nach der Invasion gibt es Anzeichen dafür, dass Populisten im Westen ihre langfristigen Ziele unbeirrt verfolgen. Zwar hat Marine Le Pen die Präsidentschaftswahlen verloren, aber die französische Rechte erhielt noch nie zuvor so viel Zuspruch wie bei dieser Wahl. Das starke Abschneiden von Jean-Luc Mélenchon im ersten Wahlgang ist ein weiteres Anzeichen dafür, dass die politische Polarisierung, wie wir sie aus Großbritannien und den USA kennen, auch in Frankreich Fuß gefasst hat.

Schmerzliche Niederlage droht

Gleichzeitig wirft Trump in den USA seinen langen Schatten. Die in dieser Woche bekannt gewordene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs deutet auf eine weitere Zuspitzung des Kulturkampfs und eine bisher ungekannte Verhärtung der Fronten hin. Präsident Joe Biden hat bereits signalisiert, dass er einzugreifen gedenkt, falls der Gerichtshof das Urteil von 1973 Roe gegen Wade, welches das Grundrecht auf Abtreibung verankert, kippt. Biden versucht, den Nato-Partnern der Vereinigten Staaten ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Doch die Wahl zum Kongress im Herbst könnte zu einem Desaster für die Demokraten werden. Ihnen droht eine schmerzliche Niederlage gegen Trumps Republikaner im Repräsentantenhaus, und auch ihre Mehrheit im Senat ist in Gefahr.

Sofern Putins Herrschaft nicht innenpolitisch erodiert, ist es wahrscheinlich, dass er auf lange Sicht in der Ukraine bleiben wird. Er geht davon aus, dass das Wiedererstarken der demokratischen und liberalen Kräfte ein vorübergehendes Phänomen ist. In der Zwischenzeit hat die Ukraine-Krise weltweit unzählige kleinere Dramen hervorgebracht. Wie sie sich entwickeln, wird zunehmend von Bedeutung sein.

In den vergangenen drei Jahrzehnten haben die westlichen Demokratien eine bemerkenswerte Selbstgefälligkeit gegenüber den existenziellen Bedrohungen, mit denen sie konfrontiert waren, an den Tag gelegt. Es ist höchste Zeit, dass sie ihre Interessen so entschlossen verteidigen wie die Trumps und Orbáns dieser Welt. (Misha Glenny, 9.5.2022)