Anne Frank (auf dem Foto elf Jahre alt) dokumentierte in ihrem Tagebuch, wie Jüdinnen und Juden in Amsterdam zur Zeit des Nationalsozialismus einem immer höheren Druck ausgesetzt waren – und wie ihre eigene Familie im Versteck lebte.
Bild: Imago / United Archives International

"Liebe Kitty" – mit dieser Anrede beginnen zahlreiche Tagebucheinträge, adressiert an eine imaginäre Freundin, der ein Mädchen in Amsterdam im Alter von 13 bis 14 Jahren Geheimnisse und Alltägliches anvertraute. Dabei war auch der Alltag der jungen Frau mit einem Mal geprägt vom Versteckenmüssen. Sie kam mit Familienmitgliedern und Bekannten in einem Hinterhaus unter, der Eingang verborgen hinter einem Bücherregal, um nicht von Nationalsozialisten gefunden und deportiert zu werden.

Alle acht Personen, die sich heimlich in der Prinsengracht 263 aufhielten, mussten mit starken Einschränkungen zurechtkommen: mit begrenztem Raum, begrenzten Lebensmitteln und auch dem Miteinander. Ein schwieriger Ort und eine schwierige Zeit, um erwachsen zu werden. Das abrupte Ende des Tagebuchs nach dem 1. August 1944 deutet es bereits an: Anne Frank, die Verfasserin, durfte nicht erwachsen werden. Sie wurde von der Gestapo verhaftet und in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, später nach Bergen-Belsen deportiert. Sie wurde nur 15 Jahre alt.

Vermächtnis der jungen Autorin

Anne Frank ist das vielleicht bekannteste Opfer der Shoah, der Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas im Dritten Reich, die auch als Holocaust bezeichnet wird. Dass ihre Aufzeichnungen, die sie selbst gern veröffentlichen wollte, von so vielen Menschen gelesen wurden und ihr Name noch heute so bekannt ist, ist ihrem Vater Otto Frank zu verdanken. Er war der einzige Überlebende aus dem Hinterhaus, wo sich Anne und er mit Annes Mutter Edith, ihrer Schwester Margot sowie der dreiköpfigen Familie van Pels und mit Fritz Pfeffer versteckten. Am 25. Juni 1947 erschien das Tagebuch in erster Auflage unter dem niederländischen Titel "Het Achterhuis", zu deutsch "Das Hinterhaus".

In erster Auflage erschien Anne Franks Tagebuch unter dem Titel "Het Achterhuis" ("Das Hinterhaus") in den Niederlanden, am 25. Juni 1947.
Foto: Sem van der Wal / ANP / AFP

Die Entscheidung, die Texte seiner Tochter zu veröffentlichen, traf Otto Frank nicht leichtfertig. Erhalten hatte er die Aufzeichnungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von Miep Gies, die wesentlich an der Verpflegung der Versteckten beteiligt war. Sie übergab die losen Blätter, auf denen Anne ihre eigenen Tagebucheinträge für eine spätere Veröffentlichung überarbeitet hatte, an den Vater – jedoch erst, nachdem klar war, dass Anne nicht überlebt hatte. "Das ist das Vermächtnis Ihrer Tochter", sagte Gies.

Widerstreben und Veröffentlichung

Durch das Tagebuch gewann Otto Frank einen ganz neuen Blick auf seine Tochter: "Eine ganz andere Anne enthüllte sich mir als das Kind, das ich verloren hatte. Ich hatte keine Ahnung von der Tiefe ihrer Gedanken und Gefühle gehabt." Anne äußerte im Tagebuch den Wunsch, Schriftstellerin zu werden – und Otto Franks Verwandte in Basel sahen einen großen Wert darin, die Aufzeichnungen zu veröffentlichen, nachdem er Ausschnitte mit ihnen teilte. "Erst widerstrebte mir der Gedanke an eine Veröffentlichung sehr", schrieb der Vater später, "erst nach und nach sah ich ein, dass sie recht hatten."

Nach einiger Zeit fand sich ein niederländischer Verlag, der das Tagebuch herausbringen wollte – mit dem Titel "Das Hinterhaus", den die Autorin selbst gewählt hatte. Es gibt unterschiedliche Versionen der veröffentlichten Texte, da nicht nur Anne selbst einige Stellen überarbeitet hatte, sondern auch Otto Frank kürzte und von ihr ausgelassene Passagen wieder einfügte.

Verschiedene Textversionen

So nahm er Verschriftlichungen von Annes Verliebtheit in Peter van Pels mit auf, entfernte aber Textstellen, die Annes Mutter und Ottos Frau Edith gegenüber kritisch waren, obwohl Anne selbst einige diesbezüglich strenge Passagen bereits gestrichen hatte. Auch Einträge über ihre Sexualität und ihre Periode ließ die junge Autorin weg und veränderte an manchen Stellen den Stil ihres Texts.

Anne Frank hatte die geführten Tagebücher im Mai 1944 überarbeitet und als einzelne Seiten neu geschrieben.
Foto: Ulli Winkler / imago

Der Erfolg des veröffentlichten Buches zeigt, wie viel Anklang das Werk fand, das gleichzeitig literarisch und als Bericht einer Zeitzeugin wertvoll ist. Noch im Jahr 1947 folgt eine zweite Auflage, 1950 wurden ins Französische und ins Deutsche übersetzte Versionen gedruckt. Doch erst durch die Umsetzung als Theaterstück – am Broadway in den USA, aber auch etwa in deutschen und niederländischen Theatern – wird die Geschichte international berühmt.

Mittlerweile sind es mehr als 70 Sprachen, in die das Tagebuch der Anne Frank übertragen wurde. Es gilt als eine der wichtigsten Veröffentlichungen über die Shoah. Für viele junge Menschen ist es wohl auch das zugänglichste Buch zu dem Thema und besonders aufrüttelnd, wenn man bei der Lektüre gerade im gleichen Alter ist wie Anne, als sie ihren Alltag im Hinterhaus beschrieb. Ihre Geschichte wurde nicht nur auf die Bühne gebracht, sondern mehrfach verfilmt und als Graphic Diary umgesetzt. Es ist nicht das einzige Tagebuch von Jüdinnen und Juden aus der Zeit des Nationalsozialismus geblieben, das veröffentlicht wurde.

Judenfeindliche Angriffe

Diese Texte sind nicht nur als Dokument vergangener Zeiten zu betrachten, sondern sie haben bis heute Relevanz. "Judenfeindlichkeit, Diskriminierung und Leugnung der Shoah sind immer noch aktuell", sagt John Goldsmith. Er ist Präsident des Anne Frank Fonds Basel, der von Otto Frank gegründet wurde, weltweit die Veröffentlichungen des Tagebuchs verantwortet und sich für Dialogförderung einsetzt.

Das Fortbestehen des Antisemitismus wird derzeit bei der Documenta in Kassel deutlich, wo der Beitrag eines indonesischen Kunstkollektivs – ein Stoffbanner mit antisemitischen Darstellungen – für einen Skandal sorgte und mittlerweile entfernt wurde. Antisemitismus ist gewiss kein Problem, das in Zentraleuropa nur bei ausländischen Beiträgen auf Kunstausstellungen auftritt. Erst vor einer Woche wurde in Deutschland ein umstrittenes Rechtsurteil gefällt, demzufolge die Lutherkirche in Wittenberg eine Schmähdarstellung – das Relief einer sogenannten "Judensau" – nicht entfernen muss.

In Österreich gab es im Vorjahr 1.671 Anzeigen nach dem Verbotsgesetz, das nationalsozialistische Wiederbetätigung unter Strafe stellt. Damit kam es zu mehr antisemitischen Vorfällen als 2020. Auch die Antisemitismusmeldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) verzeichnete im ersten Halbjahr 2021 doppelt so viele Fälle wie sonst. Unter anderem wurde auf Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen die Shoah verharmlost, Demonstrierende verglichen sich mit den Opfern des Nationalsozialismus. Und erst gestern wurden Anzeigen gegen Jugendliche bekannt, die vor der KZ-Gedenkstätte Mauthausen Videos mit nationalsozialistischem Gedankengut gefilmt haben.

Wiener Verknüpfungen

Im Übrigen war es ein Wiener Polizist, der Anne Frank verhaftete: SS-Oberscharführer Karl Silberbauer wurde in die Niederlande versetzt und führte die im Amsterdamer Hinterhaus Untergetauchten ab, wie Simon Wiesenthal etliche Jahre später feststellen konnte. Das Verfahren gegen Silberbauer wurde eingestellt, weil er auf Befehl gehandelt hatte. Wer die versteckten Familien verraten hat, ist ungeklärt. In diesem Jahr wurde ein Buch veröffentlicht, in dem dieses Rätsel gelöst werden sollte, dem aufgrund des spekulativen Charakters aber viel Kritik entgegengebracht wurde. Während die englische Version erschienen ist, wurde die niederländische zurückgezogen. Ob die deutschsprachige Ausgabe wie angekündigt korrigiert und kommentiert erscheinen wird, ist weiterhin unklar.

Wiesenthals Motivation, den für die Verhaftung zuständigen Polizisten aufzuspüren, hängt unmittelbar mit den Reaktionen zusammen, die das Tagebuch hervorrief. Nicht alle waren berührt von Annes Worten und entsetzt angesichts ihres Schicksals – es gab genügend Menschen, die das Werk als Fälschung und Teil einer Verschwörung bezeichneten. Entsprechende Flugblätter wurden von Schülerinnen und Schülern bei einer Aufführung der dramatisierten Fassung des Tagebuchs in Linz verteilt. Ein Grund für Wiesenthal, fünf Jahre lang nach dem noch später als Polizist arbeitenden SS-Mann Silberbauer zu suchen und die Behauptungen Lügen zu strafen.

Doch nicht nur der Wiener Karl Silberbauer, auch die in Wien geborene Miep Gies gehört zu Annes Geschichte. Sie half der Familie Frank beim Untertauchen und versorgte die Versteckten gemeinsam mit weiteren Helfern mit Nahrungsmitteln und Zeitungen. Gies war bei der Verhaftung anwesend und konnte verhindern, selbst abgeführt zu werden, indem sie offenbar auf die Heimatliebe Silberbauers hoffte und deutlich machte, dass sie wie er aus Wien stammte. Sie verbarg Annes Tagebuch vor der Gestapo und gab es nach dem Krieg an Otto Frank.

Otto Frank (Mitte) war der Einzige aus dem Hinterhaus, der die Shoah überlebte. Links sitzt Miep Gies, die wie Bep Voskuijl (sitzend rechts), Johannes Kleiman (stehend links) und Victor Kugler (stehend rechts) das Versteck geheim hielt und die untergetauchten Jüdinnen und Juden versorgte.
Foto: Anne Frank House / AFF / AP

Manifest gegen die Verfolgung Unschuldiger

Der Präsident des Anne Frank Fonds, John Goldsmith, betont, dass das Tagebuch der Anne Frank ein Manifest sei. Es steht als Vermächtnis auch für die Lehren und Werte, die Anne vermitteln wollte und für die sich ihr Vater als Überlebender engagieren konnte. "Otto Frank trieb nicht Vergeltung und nicht Resignationen an, sondern zivile Verantwortung", sagt Goldsmith.

Otto Frank sagte bei einem Interview im Jahr 1979: "Was geschehen ist, können wir nicht mehr ändern. Das Einzige, was wir tun können, ist, aus der Vergangenheit zu lernen und zu erkennen, was Diskriminierung und Verfolgung unschuldiger Menschen bedeuten." (Julia Sica, 25.6.2022)