Bleibt diese Debatte aus, wird die Neutralität ein Hemmschuh für unsere Außen- und Sicherheitspolitik, warnt Martin Senn, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck, im Gastkommentar.

Der Krieg in der Ukraine rückt die Ausstattung des Bundesheeres wieder in den Fokus. Die Regierung verhandelt über eine Erhöhung des Heeresbudgets auf ein Prozent des BIP.
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Das könnte sie gewesen sein, die österreichische Neutralitätsdebatte angesichts der Zeitwende in der europäischen Sicherheitsarchitektur. Der Kanzler hat ein Machtwort gesprochen. Die europäischen Nato-Staaten haben Beistand für die Neutralen und Bündnisfreien in Aussicht gestellt. In den Medien wurden einmal mehr Argumente für und wider einen Nato-Beitritt ausgetauscht. Viele wichtige Fragen bleiben aber nach wie vor ungestellt und unbeantwortet, und damit letztlich wesentliche Parameter der österreichischen Außen- und Sicherheitspolitik ungeklärt.

Es mag zunächst beruhigend sein zu wissen, dass die europäischen Nato-Staaten im Bündnisfall auch bereit wären, den neutralen Staaten Hilfe zu leisten. Da dieser Beistand über den Mechanismus der europäischen Beistandsverpflichtung erfolgen würde, die in Artikel 42 (7) des EU-Vertrages festgeschrieben ist, stellt sich für Österreich jedoch die dringende Frage, wie es sich seinerseits im Fall eines europäischen Beistandsfalls angesichts eines militärischen Angriffs auf einen EU-Staat verhalten würde.

Eingeschränkte Neutralität

Durch den Artikel 23j des Bundesverfassungsgesetzes, mit dem der Gesetzgeber auf die fortschreitende Integration im Bereich der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Vertrag von Lissabon reagierte, kann Österreich auch an Kampfeinsätzen im Rahmen der Europäischen Union mitwirken. Der Geltungsbereich der Neutralität wurde also eingeschränkt, sie ist für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas ausgesetzt. Gleichzeitig räumt das europäische Recht den neutralen Staaten mit der sogenannten "Irischen Klausel" die Möglichkeit ein, mit Berufung auf ihren neutralen Status nicht an militärischen Einsätzen teilzunehmen.

83 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher sind für die Beibehaltung der Neutralität, ergab eine Hajek-Studie für das Verteidigungsministerium.

Im europäischen Bündnisfall kann sich Österreich nach europäischem Recht also auf die Neutralität berufen, muss es aber nach nationalem Recht nicht tun. Damit eröffnet sich ein politischer Möglichkeitsraum und die Frage, welchen Beitrag Österreich in einem solchen Fall leisten wollen würde, welchen Beitrag es derzeit zu leisten imstande wäre und wie allfällige Fähigkeitslücken geschlossen werden können. Wenn gegenwärtig über die Erhöhung der Ausgaben für Österreichs Bundesheer gesprochen wird, sollte dies also auch mit dem Blick darauf erfolgen, welchen Beitrag das Bundesheer in einem europäischen Bündnisfall leisten sollte und könnte. Diskutiert man diese Fragen nicht, läuft man Gefahr, im Anlassfall weder den politischen Willen noch relevante Fähigkeiten zu haben und damit tatsächlich zum sicherheitspolitischen Trittbrettfahrer zu werden, wie dies auch Helfried Carl kürzlich an dieser Stelle festgestellt hat (siehe "Österreichs Sicherheitspolitik: Phrasen sind gefährlich").

In die Vermittlerposition

Eine ernst zu nehmende Neutralitätsdebatte sollte sich aber nicht nur mit Fragen der Verteidigung und Solidarität beschäftigen. Neutrale Staaten sichern ihre souveräne Existenz meist nicht ausschließlich durch Verteidigung ab, sondern auch durch einen Mehrwert ihrer Neutralität für andere Staaten. Es gilt also zu diskutieren, inwiefern die Neutralität Österreich im 21. Jahrhundert als Standort für internationale Organisationen attraktiv(er) macht. Inwiefern sie Österreich in die Lage versetzt, sich als Vermittler zu positionieren und das Gewicht des Staates in der Weltpolitik zu erhöhen. Eine gewinnbringende Diskussion dieser Fragen wird es auch nötig machen, die vorherrschende Binnensicht auf das Thema zu überwinden und sich damit auseinanderzusetzen, wie die österreichische Neutralität von anderen Staaten wahrgenommen und bewertet wird.

Schließlich sollte sich nicht nur der inhaltliche Fokus der Neutralitätsdebatte ändern, sondern auch deren Form. Eine in den Medien ausgetragene Debatte ist zwar wichtig, aber gleichzeitig flüchtig. Es braucht mehr Diskussion unter Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik, Diplomatie und Militär. Eine solche zu ermöglichen und ihre Ergebnisse für die Politik und die Öffentlichkeit verfügbar zu machen obliegt den universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen dieses Landes.

Chance nützen

Gleichzeitig sollte sich auch die Politik strukturierter und nachhaltiger mit dem Thema auseinandersetzen. Als Beispiel könnte, einmal mehr, die Schweiz dienen, in der die Regierung in Neutralitätsberichten Auskunft darüber gibt, wie sie Neutralität unter sich ändernden politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen versteht und zu leben gedenkt. Ein solcher Bericht, angefordert durch eine Entschließung des National- oder Bundesrates und eingebettet in Vorarbeiten von Expertinnen und Experten, wäre auch in Österreich dringend geboten.

Dass die Politik die Neutralitätsdebatte scheut, ist nachvollziehbar. Man kann mit ihr keine Wahl gewinnen, aber sehr leicht eine Wahl verlieren. Wird sie aber weiterhin gemieden und unzulänglich geführt, vergibt man eine Chance, die Neutralität zu überdenken oder eben neu zu denken und zu gestalten, und läuft Gefahr, dass sie zu einem Hemmschuh der Außen- und Sicherheitspolitik wird. Auch der Umstand, dass sich Russland scheinbar für eine Neutralität der Ukraine nach österreichischem Vorbild zu erwärmen scheint, sollte letztlich die Debatte hierzulande anregen. (Martin Senn, 17.3.2022)