Über die Verantwortung für die geringe Teilnahme an den Massentests wird gestritten.

Foto: APA / Gerd Eggenberger

Die Massentests sind in Österreich abgeschlossen, die Teilnahme der Bevölkerung war verhalten. Von den mindestens 50 Prozent, die die Regierung als Ziel vorgegeben hat, sind alle Bundesländer weit entfernt. Eine Mitverantwortung dafür wird immer wieder Menschen mit Migrationshintergrund gegeben: Zuletzt führte etwa Klaus Schneeberger (ÖVP), Bürgermeister von Wiener Neustadt, die niedrige Beteiligung von nur 15 Prozent auf die "Zusammensetzung in der Stadt" zurück, die "einen riesengroßen Migrationsanteil" (siehe Infobox) habe. Menschen mit Migrationshintergrund hätten sich nur "spärlich" testen lassen, so Schneeberger. Vergangene Woche sagte der Gesundheitsexperte Armin Fidler, dass es in Vorarlberg "möglicherweise ein Kommunikationsproblem" mit Menschen mit Migrationshintergrund gebe. Bei den Tests werden allerdings weder Nationalität noch Migrationshintergrund erfasst.

Das Thema "rassistische Erklärmuster" und Corona ist nicht neu. Anfang Dezember sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in einer Pressekonferenz, dass im Sommer "durch Reiserückkehrer und insbesondere durch Menschen, die in ihren Herkunftsländern den Sommer verbracht hätten, Ansteckungen wieder ins Land hereingeschleppt" worden seien. Dass die Ansteckungen sich durch Reiserückkehrer ausgebreitet haben, ist unbestritten. Eine Möglichkeit der statistischen Erhebung, ob jemand im "Herkunftsland den Sommer verbracht" oder als Österreicher ohne Migrationshintergrund in Kroatien im Partyurlaub war, gibt es aber nicht.

Keine neuen Vorwürfe

Bereits im August sagte Kurz auch, "das Virus kommt mit dem Auto", und meinte damit die Reiserückkehrer vom Westbalkan. In einer STANDARD-Reportage sprach ein Arzt aus Schwaz in Tirol von "großen Familienclans, ähnlich wie in der Türkei", die zum Infektionsgeschehen beitrügen.

Die Autorin Stefanie Sargnagel hat im Sommer für diese satirische Aufarbeitung des Kanzler-Sagers viel Zuspruch erhalten.

Immer wieder wird also die Schuld bei "den anderen", bei Menschen mit Migrationsgeschichte, gesucht. Dabei reichen die Vorwürfe vom mutmaßlich gut gemeinten Hinweis darauf, dass sie viele Informationen aufgrund sprachlicher Hürden nicht verstehen würden, bis hin zu Anschuldigungen, es würde in "ihrer Kultur" liegen, die Regeln nicht zu befolgen. Warum hält sich dieser Ansatz so hartnäckig, auch wenn es keine Evidenz dafür gibt? Wie wirken sich diese Aussagen auf Betroffene aus, und wer profitiert schlussendlich von dieser Erzählung?

Systemrelevante Beschuldigte

"Uhh", stöhnt Teresa, wenn man sie auf die Aussagen von Bundeskanzler Kurz anspricht. Die 29-Jährige war jahrelang Rettungssanitäterin und danach als diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin tätig. Heute beantwortet sie Fragen bei einer Beratung für Gesundheit und Pflege – und ist damit eine von vielen Menschen mit Migrationsgeschichte, die in einem systemrelevanten Beruf tätig sind und daher nicht aus dem Homeoffice arbeiten können. Menschen in systemrelevanten Berufen sind einer Studie der Universität Glasgow von Anfang Dezember zufolge einem siebenfach höheren Corona-Risiko ausgesetzt als Beschäftigte, die die Möglichkeit haben, im Homeoffice zu arbeiten.

Teresa selbst ist in Österreich geboren, ihre Eltern kommen aus Kroatien. "Ich finde es nicht in Ordnung, dass der Bundeskanzler so auf den Westbalkan hindrischt", sagt Teresa, die eigentlich anders heißt und anonym bleiben möchte. Seit Beginn der Pandemie ist sie nicht gereist, auch nicht nach Kroatien. Dort hat sie Familie, ihr 88-jähriger Großvater lebt dort. "Das macht mir schon Sorgen. Man weiß ja nicht, wie lange er noch leben wird", sagt Teresa. "Es macht mir zu schaffen, dass ich ihn dieses Jahr nicht gesehen habe."

Verdrängung der Angst

Für Teresa sind die Aussagen des Bundeskanzlers Strategie: "Er sucht einen Sündenbock für die hohen Infektionszahlen." Die Suche nach Schuldigen sei kein Phänomen, das die aktuelle Pandemie betrifft, sagt die Sozialpsychologin Pia Lamberty, Doktorandin der Abteilung für Sozial- und Rechtspsychologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. "In einer Krisensituation, insbesondere in einer Gesundheitskrise, werden Gruppen gesucht, die dafür verantwortlich gemacht und abgewertet werden", sagt Lamberty. Diese Mechanismen würden bewirken, dass man nicht das eigene Verhalten ändern müsse.

Michael Blume sieht es ähnlich. Er ist Beauftragter der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus und Verschwörungsmythen. "Wenn Menschen auf große Unsicherheit treffen, neigen sie zum Blunting", einer Art der Verdrängung, erklärt Blume im Gespräch mit dem STANDARD: "Statt die Angst auf sich zu nehmen, schreiben sie sie anderen Gruppen zu."

Psychische Entlastung

Sozialpsychologin Lamberty sieht das ähnlich: "Man erklärt es zu einem Problem, das von außen kommt, und schiebt die Verantwortung ab." Das könne "psychologisch entlasten, aber pandemisch ist es gefährlich".

Blume spielt auf ein extremes Beispiel in der Vergangenheit an: "In der Geschichte gab es sogenannte Pestpogrome. Jüdische Gemeinden wurden angegriffen und zum Teil vernichtet – weil man ihnen vorgeworfen hat, die Pest zu bringen", sagt Blume. Dieses Blunting entlaste psychisch, trage aber nicht zur Lösung bei.

Grenzstau Ende August. Dass sich die Ansteckungen durch Reiserückkehrer ausgebreitet haben, ist unbestritten. Ob jemand "im Herkunftsland den Sommer verbracht" hat oder als Österreicher ohne Migrationshintergrund in Kroatien auf Partyurlaub war, ist statistisch nicht erfasst.
Foto: APA/ORF KÄRNTEN

"Wir sind natürlich nicht mehr im Mittelalter", wendet Lamberty ein, aber andere für die Bedrohung verantwortlich zu machen sei "ein basaler psychologischer Mechanismus". Das sei keine Entschuldigung, aber eine Erklärung.

Ablenkung von anderen Themen

Für die Regierung ist es jedoch nicht nur eine psychische Entlastung: Vor allem Kurz’ Aussagen, das Virus sei "aus den Herkunftsländern eingeschleppt" worden, sorgte für Aufregung und Empörung, die tagelang anhielt – und für die sich die Empörten auch noch tagelang rechtfertigen mussten. Andere Themen, wie die Pannen bei den Massentests, die täglich 100 Corona-Toten und die Verantwortung der Regierung für ihr Krisenmanagement allgemein gerieten damit in den Hintergrund. Stattdessen wurde darüber diskutiert, warum die Aussagen des Bundeskanzlers rassistisch waren und in sozialen Medien Debatten über "verantwortungslose Migranten" geführt.

"Politisch eignet sich das Wegschieben der Verantwortung perfekt zur Stimmungsmache", sagt Lamberty. Das sei gerade für populistische Gruppen und Parteien eine Möglichkeit eine gesellschaftliche Stimmung aufzugreifen und nochmal zu verstärken. "Ich sehe das als eine sehr gefährliche Strategie an", sagt die Sozialpsychologin.

Verwirrende Informationen

Teresa telefoniert bei ihrer Arbeit immer wieder auch mit Menschen mit Migrationsgeschichte. Dass die sich weniger an die Maßnahmen halten, glaubt sie nicht. Bei einigen hapere es an den Deutschkenntnissen, sie verstünden Pressekonferenzen und Informationen nicht. "Aber auch, wenn man Deutsch kann, sind die Informationen nicht so klar", fügt Teresa hinzu.

Viele Anrufer, unabhängig von ihrer Herkunft, hätten Fragen zu Quarantäne, Verdachtsfällen und Absonderung. Teresa wünscht sich klarere Informationen, auch in der Muttersprache der Menschen. Darauf angesprochen, wie ihr die Regierung noch helfen könnte, sagt sie: "Dass das Virus vom Westbalkan eingeschleppt worden ist: Solche Aussagen hätte man sich sparen können." (Ana Grujić, Noura Maan, Vanja Nikolić, Olivera Stajić, 16.12.2020)