Politologe Anton Pelinka kritisiert in seinem Gastkommentar das neue schwarz-blaue Bündnis in Niederösterreich. Die schlechte Meinung vieler Menschen über die Politik sei da kein Wunder.

Johanna Mikl-Leitner und Udo Landbauer qualifizieren sich für einen Preis – den Preis für einen überzeugenden Beitrag zur Zerstörung des Vertrauens in die Politik. Das Abkommen, das sie vergangene Woche in St. Pölten unterzeichnet haben, bestätigt in provokanter Eindringlichkeit alle die populistischen Vorurteile gegen Politik wie Politikerinnen und Politiker. Die Landeshauptfrau schließt ein Bündnis mit einem Mann, in dessen Studentenverbindung Lieder salonfähig waren (sind?), die sich über die Opfer des Holocaust lustig machen; und der Freiheitliche verbündet sich mit der Frau, die kurz davor für ihn noch der Inbegriff der Korruption und der Islam-Hörigkeit war und deren Wiederwahl er unbedingt verhindern wollte.

Neue Gemeinsamkeit: Die schwarz-blaue Koalition in Niederösterreich von Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner ...
Foto: Heribert Corn
... und Udo Landbauer sorgt weiterhin für viel Empörung.
Foto: Heribert Corn

Keine Entschuldigung

Alle, die immer schon wussten, dass Politik eine schmutzige Sache ist, können sich bestätigt fühlen. Die niederösterreichische SPÖ hat durch taktisches Ungeschick die Allianz der Grundsatzlosen erleichtert. Aber das ist keine Entschuldigung für das Verhalten der Bündnispartner von St. Pölten. Um Landeshauptfrau bleiben zu können, desavouiert Mikl-Leitner die Corona-Politik der von der ÖVP geführten Bundesregierung. Um Landeshauptmannstellvertreter zu werden, sucht Landbauer Zuflucht in Kasuistik: Die FPÖ werde Mikl-Leitner nicht wählen, sondern "bloß" durch Stimmenthaltung deren Wahl ermöglichen.

Der rote (schwarze, blaue) Faden, der uns verstehen hilft, was die Parteien bewegt – das ist die Maximierung von Macht. Mikl-Leitner ist großzügig bereit, über das von der FPÖ geprägte Wort von der Muslim-Mama hinwegzusehen. Was mit dem antisemitischen Liederbuch geschehen ist – darüber schweigt sich Landbauer aus. Und niemand erinnert ihn daran.Die ÖVP hat sich, jedenfalls seit der "Ära Kurz", ein betont israelfreundliches Profil gegeben. Die mahnenden Worte des Präsidenten der IKG, Oskar Deutsch, im Gastkommentar erinnern daran, dass das auch wieder verlorengehen kann. Doch so tief ist die Partei in ihrem Opportunismus verfangen, dass – wenn es ihrem Machterhalt dient – sie über die Verhöhnung der Holocaust-Opfer hinwegsieht.

Taktisches Klein-Klein

"Politisch’ Lied, ein garstig’ Lied" heißt es schon im Faust. Wie soll die öffentliche Meinung zu einem anderen Befund kommen, wenn sich Mikl-Leitner mit Rechtsextremen zusammentut, nur um ihre Position zu retten? Wenn Landbauer der Frau, deren Wiederwahl er unbedingt verhindern wollte, zu ebendieser Wiederwahl verhilft, nur um sich und den Seinen Zugang zu den Futtertrögen politischer Macht zu sichern? Wenn "die Politik" erstaunt fragt, womit sie sich die abgrundtief schlechte Meinung in der Öffentlichkeit verdient hat, dann muss sie nur nach St. Pölten schauen.

Dass Parteien ihr programmatisches Profil den wechselnden Gegebenheiten anpassen, versteht sich. Doch dass Parteien sich im taktischen Klein-Klein erschöpfen, statt den gesellschaftlichen Megatrends nachzugehen und über die Taktik hinaus eine Strategie zu entwickeln, sollte angesichts der Erfahrungen mit Pandemie, Globalisierung und europäischer Kriegsrealität doch einen breiten Diskurs provozieren. Dem wichen (fast) alle aus. Das ist der Hintergrund des niederösterreichischen Opportunismus.

"Alle schauen gebannt auf die Ergebnisse der "Sonntagsfrage". Wer macht sich Gedanken über den nächsten Sonntag hinaus?"

Sozialpolitik zugunsten der Schwächsten? Was aber, wenn die Schwächsten nicht auf dem Wählerinnen- und Wählermarkt auftreten können, weil sie – mangels Staatsbürgerschaft – nicht Teil von "uns" sind? Das wäre ein breites Feld für eine Sozialdemokratie, die einmal den Slogan für sich beansprucht hatte: "Hoch die internationale Solidarität!" Es mag sein, dass man mit einer solchen Botschaft keine FPÖ-Wählerinnen und -Wähler gewinnen kann. Aber ohne eine Erinnerung an ihre einstmals internationalen Wurzeln hat die SPÖ ja auch nicht gerade gut abgeschnitten.

Alle schauen gebannt auf die Ergebnisse der "Sonntagsfrage". Wer macht sich Gedanken über den nächsten Sonntag hinaus? Wer beschäftigt sich mit den Nöten und Ängsten der Jugend von morgen?

Ist St. Pölten der Beginn einer österreich-weiten Entwicklung? Wer soll ÖVP-Politikern noch glauben, wenn sie versichern, mit Herbert Kickl gebe es keine Koalition? Und wie echt wirken Kickls Angriffe auf die ÖVP, wenn er sie als Mutter der Korruption hinstellt? Kommt nach St. Pölten nicht Salzburg? Und dann?

Verdient Österreich Kickl?

Was bleibt, das ist der Zynismus einer Flucht aus der Politik; und der Hinweis auf die Dimension: Niederösterreich hat etwa so viele Einwohnerinnen und Einwohner wie ein größerer Bezirk von Schanghai oder Mumbai. Aber es bleibt auch die Einsicht, dass in einer Demokratie die Menschen die Regierung haben, die sie verdienen. Niederösterreich verdient Mikl-Leitner und Landbauer. Verdient Österreich Kickl?

Niederösterreich ist das Land, aus dem nicht nur Karl Renner und Oskar Helmer hervorgegangen sind, sondern auch Leopold Figl und Julius Raab. Wären sie stolz auf die Partei, die sie 1945 gründeten? Othmar Karas, Urgestein der ÖVP und stellvertretender Präsident des Europäischen Parlaments, schämt sich offenkundig für seine Partei. Das macht ihm keine innerparteilichen Freunde – jedenfalls nicht in Österreich. Aber in Europa?

Doch Europa, das ist ja weit, weit weg. Dass der russisch-ukrainische Krieg der österreichischen Ostgrenze näher ist als der Bodensee, rührt das eine österreichische Partei? Eine sicherheitspolitische Debatte findet nicht statt. Und niemandem scheint aufzufallen, dass die FPÖ beziehungsweise ihre Vorgängerpartei, der Verband der Unabhängigen (VdU), am 26. Oktober 1955 gegen das Verfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität gestimmt hat, sich inzwischen zur lautstärksten Verteidigerin der Neutralität gewandelt hat. (Anton Pelinka, 21.3.2023)