Im Gastkommentar zeigt Mark Leonard vom European Council on Foreign Relations auf, wie in den unterschiedlichen Ländern auf die Spannungen mit Russland reagiert wurde und was Putins Handeln an der ukrainischen Grenze in der EU ausgelöst haben könnte.

Brüsseler Krisengespräch: Frankreichs Präsident Macron, Polens Premier Morawiecki.
Foto: EPA / Yves Herman

Nach wochenlangen Spekulationen darüber, ob Russland in die Ukraine einmarschieren wird, ist eine klare Mehrheit der Befragten in einer europaweiten Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR) der Meinung, dass ein Krieg wahrscheinlich ist und dass Europa darauf reagieren sollte. Die Befürchtungen sind in den einzelnen Ländern unterschiedlich ausgeprägt und hängen zum Teil von den eigenen, jüngst gemachten Erfahrungen ab.

In Polen, das mit dem Versuch Belarus’, Migrantinnen und Migranten aus dem Nahen Osten über seine Grenze zu schleusen, zu kämpfen hat, ist die Angst vor neuen Flüchtlingswellen groß. In Frankreich und Schweden sind Cyberangriffe die Hauptsorge, da sich Russland kürzlich in nationale Wahlen eingemischt hat. In Deutschland, Italien und Rumänen ist die Energieknappheit die größte Angst.

"Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln."
Carl von Clausewitz (1780–1831)

Doch es geht um mehr als darum, wie unterschiedlich die Europäerinnen und Europäer äußere Bedrohungen wahrnehmen. Der große deutsche Stratege Carl von Clausewitz beschrieb den Krieg bekanntlich als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, und in den ersten Wochen der Ukraine-Krise sprach die Art und Weise, wie die Länder auf die Kriegsgefahr reagierten, Bände über ihre Innenpolitik.

Innenpolitische Ablenkung

Nehmen wir das Vereinigte Königreich. Viele vermuten, dass das plötzliche Interesse von Premier Boris Johnson an Osteuropa weniger mit seiner Sorge um die Ukraine zu tun hat als mit seinem Wunsch, von den Enthüllungen in der Party-Affäre abzulenken. Darüber hinaus könnte die Krise auch eine Gelegenheit für ihn sein, den USA zu zeigen, dass Großbritannien auch nach dem Brexit noch wichtig ist.

US-Präsident Joe Bidens oberstes Ziel besteht darin, Ressourcen und Zeit zur Bewältigung der Krise zu minimieren. Beim Amtsantritt hatte er sich eine Politik zum Ziel gesetzt, die der Mittelschicht zugutekommt und die den außenpolitischen Schwerpunkt auf den indopazifischen Raum und die Herausforderung durch China verlagert. Mit der drohenden Rückkehr Donald Trumps an die Macht steht nicht nur die Politik gegenüber der Ukraine und Russland auf dem Spiel. Es geht auch um die Zukunft der US-amerikanischen Demokratie.

Für die Menschen in Ost- und Mitteleuropa ist die Position der USA von großer Bedeutung. Sie sind zunehmend besorgt über die sich verschlechternde Politik der Vereinigten Staaten und die zweifelhafte Entschlossenheit angesichts der russischen Aggression. Ihre größte Befürchtung ist, dass Tallinn, Riga oder sogar Warschau ihr nächstes Ziel sein könnten, wenn russische Panzer in die Ukraine einrollen.

Länder wie Deutschland, Italien, Österreich, Griechenland befürchten, dass ein Konflikt die Möglichkeit einer Normalisierung der Beziehungen zu Russland ausschließt. Deutschland ist hin- und hergerissen zwischen seinen westlichen Werten, seiner Solidarität mit den mittel- und osteuropäischen Ländern und seiner pazifistischen Nachkriegstradition. Kanzler Olaf Scholz hat daher westlichen Staats- und Regierungschefs versichert, dass Deutschland im Falle eines Krieges ein solider Verbündeter sein werde, gleichzeitig aber auch signalisiert, dass es bei einer gemeinsamen europäischen Reaktion keine Führungsrolle übernehmen werde.

Zwei Schreckensszenarien

Scholz’ Position steht in krassem Gegensatz zu der des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der die Krise als Chance sieht, eine europäische "strategische Autonomie" zu demonstrieren – ein Ziel, das er seit Beginn seiner Präsidentschaft verfolgt. Natürlich kann Macron durch die Übernahme einer sichtbaren Führungsrolle bei der Lösung der Ukraine-Krise auch sein Image im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im Frühjahr aufpolieren.

Mit ihren geografisch und historisch geteilten Mitgliedsländern hat sich die EU oft schwergetan, Geschichte zu machen. Sie erscheint passiv, schwach und unbeweglich, und das Klischee besagt, dass sie nicht bereit ist, die bestehende Sicherheitsordnung zu verteidigen oder zu revidieren. Kritikerinnen und Kritiker glauben, dass die EU durch die Aussicht auf zwei Schreckensszenarien gelähmt sei: einen totalen Krieg oder ein Szenario von Jalta 2.0, in dem Russland und die USA eine neue Regelung für Europa aushandeln, ohne sich die Mühe zu machen, die Europäerinnen und Europäer zu konsultieren.

Zentrale Interessen

Hinter den offensichtlichen Unterschieden verbergen sich jedoch zentrale Interessen, die alle Europäerinnen und Europäer teilen: der Wunsch, einen Krieg in Europa zu verhindern, das Bedürfnis, die Glaubwürdigkeit der Nato zu bewahren, und die Verantwortung, die Ukraine vor einer erneuten Unterjochung durch Russland zu bewahren. Das Geniale an der europäischen Politik ist ihre Fähigkeit, innenpolitische Zwänge mit internationaler Diplomatie in Einklang zu bringen. Die ECFR-Umfrage zeigt, dass sich die europäischen Politikerinnen und Politiker in den letzten Wochen über die Notwendigkeit einer Reaktion einig geworden sind.

Gleichzeitig finden die Regierungen bessere Wege, um ihre eigenen Differenzen zu überwinden. Obwohl sich viele in Mittel- und Osteuropa mit diplomatischen Gesprächen unwohl fühlen, haben sie nicht versucht, die USA oder Macron daran zu hindern, Optionen für ein Engagement mit Russland auszuloten. Und Macron seinerseits hat darauf geachtet, andere Länder zu konsultieren und sich an die vereinbarten Grundsätze bezüglich der europäischen Sicherheit und der ukrainischen Souveränität zu halten.

Schwierige Kompromisse

Zudem hat Deutschland nach anfänglichem Zögern und Schweigen signalisiert, dass es bereit ist, alle Sanktionen auf den Tisch zu legen. Wie mir ein EU-Außenminister anvertraute, hielt sich sogar Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán weitgehend an die gemeinsame EU-Linie, als er sich mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin traf.

Die Tatsache, dass ein Krieg in Europa nicht mehr undenkbar ist, könnte die Europäerinnen und Europäer dazu zwingen, schwierige Kompromisse einzugehen, um ihren gemeinsamen Frieden zu wahren. Auch wenn es sicherlich nicht sein Ziel war, als er begonnen hatte, Truppen an der ukrainischen Grenze zu stationieren, hat Putin möglicherweise unwissentlich dazu beigetragen, dass sich die EU-Mitgliedsstaaten von einer zersplitterten Ansammlung besorgter Beobachterinnen und Beobachter in einen Block entschlossener Verteidigerinnen und Verteidiger ihrer eigenen Sicherheit verwandelt haben. (Mark Leonard, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 21.2.2022)